Die Akte Kachelmann
vor der Tür?
Es klingelt kanadisch. Sonja A. beruhigt das, ein wenig. Am 15. März kann sie lesen: «Genf teilt mit: Habemus erste Kastanienknospe.» Jörg Kachelmann, noch immer in Übersee, hat das geschrieben. Es ist seine letzte Twittermeldung. Für fast ein Jahr. Er ist nicht tot, notiert Sonja A., schade.
Aber wann schreibt Sonja A. ihr Tagebuch wirklich? An den angegebenen Tagen oder nachträglich – nach der Festnahme?
Datiert vom 19. März 2010 hält Sonja A. fest, sie habe im Internet herausgefunden, dass er kommende Woche bei der ARD «Das Wetter im Ersten» moderieren soll. Er kommt zurück, hält sie im «warum.doc» fest, als ob nichts wäre. Wie krank muss er sein? Wie skrupellos und abgebrüht?
Am selben Tag, früher als geplant, besteigt Jörg Kachelmann in Vancouver einen Airbus A340 der Lufthansa. Die Reise führt nicht nach Zürich, von wo er als Schweizer Staatsbürger nie nach Deutschland ausgeliefert würde. Jörg Kachelmann fliegt nonstop nach Frankfurt. «Wenn ich wirklich etwas angestellt hätte», wird er ein unglückliches halbes Jahr später in einem «Spiegel»-Interview sagen, «wäre ich nicht nach Deutschland geflogen. Ich bin doch kein Volltrottel. Ich hätte unbegrenzt in den USA und Kanada bleiben können.»
Die Kriminalpolizei Schwetzingen erfährt von der Lufthansa, dass ihr Gesuchter Nummer 1 auf einem Businesssitz über den Wolken schwebt. Um 10.45 Uhr am Morgen des 20. März 2010 soll er in Frankfurt landen. Drei Beamte und zwei Beamtinnen aus dem Provinzstädtchen rücken aus.
Die Jüngste im Spezialeinsatz an jenem warmen Vorfrühlingstag wird mehr als ein halbes Jahr später ein umstrittenes Thema werden in Mannheim beim Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann. Mit in den Polizeiautos, die zum Frankfurter Flughafen fahren, sitzt eine Praktikantin der Kripo. Es ist die Tochter des Einsatzleiters Horst D. «Da wird eine Promi-Verhaftung», wird die Verteidigung des Wettermoderators donnern, «zu einem Familienevent der besonderen Art gemacht.» Die Tochter des Kriminalhauptkommissars habe während der Aktion «ein Dauergrinsen» im Gesicht gehabt. Alles sei rechtmäßig verlaufen, wird eine Polizistin im Zeugenstand entgegnen. Gegrinst habe niemand. Doch einer der Mannheimer Richter wird finden, «dass das nicht geschickt» war, als Einsatzleiter seine Tochter mitzubringen zur bislang aufsehenerregendsten Verhaftung durch die kleine Einheit. Auch polizeiintern setzt es deswegen einen Rüffel für Vater D.
Am Frankfurter Flughafen kommt das Spezialkommando um 9.30 Uhr an. Dort trifft es zwei Kollegen vom Dezernat 43 der Polizeidirektion Heidelberg. Es sind dieselben Experten der Spurensicherung, die die Dachwohnung von Sonja A. durchsucht haben. Zusammen mit Kollegen von der Soko Flughafen Frankfurt sprechen sie die Geheimoperation Kachelmann ein letztes Mal durch.Alles ist generalstabsmäßig geplant. Zwei Ermittler aus Schwetzingen haben Wochen zuvor die Lage vor Ort erkundet. Oberstes Ziel: einen Prominenten zu verhaften, ohne dass es jemand bemerkt. Auf das Deck beim Terminal 1, auf dem der Schweizer eineinhalb Monate zuvor seinen Volvo geparkt hat, werden seit Stunden schon keine Fahrzeuge mehr gelassen.
Um 11 Uhr, die Maschine aus Vancouver ist gelandet, nehmen die Beamten in Zivil ihre Positionen ein. Einige warten hinter der Zollabfertigung, andere am Gepäckband 13.
Es ist rund 20 Grad wärmer als an den Dauerfrosttagen, während derer Jörg Kachelmann Deutschland verlassen hatte. Eine Fahnderin erblickt den Gesuchten als Erste. Er trägt ein kariertes rotschwarzes Hemd, ist gewohnt schlecht rasiert, hantiert mit seinem Handy. Übermüdet wirkt er. Mit seinem Gepäck begibt er sich zügig zum Ausgang. Die Polizei «nimmt ihn auf», wie es im Jargon heißt, heftet sich, möglichst ohne aufzufallen, an seine Fersen.
Die Verfolger erstaunt, dass gleich nach der Zollkontrolle eine junge Frau dem Observierten um den Hals fällt. Auch Kachelmann muss verblüfft sein. Eigentlich ist er mit der Studentin mit der dunklen Lockenmähne erst in rund einer Stunde verabredet. Doch sie ist früher angereist, um ihn zu überraschen. Innig begrüßen sich die beiden.
Die Frau, so denken sich die Polizisten, kann wegen ihres Aussehens und Alters kaum Lena G. aus der Akte sein. Sie, die Kachelmann jetzt küsst, scheint nochmals ein ganzes Stück jünger als jene Hamburger Personalberaterin von den Flugticketkopien. Knapp über zwanzig vielleicht.
Die Vermutung wird
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