Die Akte Kachelmann
Polizistenduo erklärt der Hauptbelastungszeugin gegen Jörg Kachelmann die Videoanlage, die sie alle heute nach Heidelberg geführt hat.
Dann fragt die Polizeibeamtin M.: Wie geht’s? Tja, antwortetSonja A., es sei ihr in ihrem Leben schon besser gegangen. Aber es ginge schon. Ob sie denn in der Lage sei, vernommen zu werden? Ja.
Es wird eine Vernehmung werden mit vielen Tränen, vor allem dann, wenn es um sexuelle Handlungen geht und um die Beziehungsgeschichte mit Jörg Kachelmann. Sonja A. wird am ganzen Körper zittern und ihre Finger «aneinanderwetzen», so wird die Polizistin später vor Gericht aussagen. Sie habe gedacht, die Zeugin «fängt gleich an zu bluten». Sonja A. habe wesentlich schlechter ausgesehen als rund sechs Wochen zuvor, am Tag nach der mutmaßlichen Tat.
Doch am Anfang ihrer Aussage in Heidelberg – und auch ganz am Schluss – weint Sonja A. nicht. Sie erzählt, dass sie am 8. Februar nicht arbeiten musste, dass sie bei den Eltern zu Mittag aß, dass sie am Nachmittag die Wohnung ein bisschen saubermachte, wie sie das immer getan habe, bevor er kam, dass sie fernsah, mit ihm chattete.
Um 15.45 Uhr am 8. Februar 2010 fing der letzte von 1400 GoogleChats zwischen Sonja A. und Jörg Kachelmann an. Juhuuu, schrieb sie. Die Antwort kam Sekunden später: Huuhuu. Der Dialog wird hier, weil er zentral für die gerichtliche Beurteilung ist, verkürzt und aus juristischen Gründen sinngemäß wiedergegeben. Er erstreckte sich über eine Viertelstunde.
Sonja A. fragte Jörg Kachelmann, ob er noch im Büro sei. Er antwortet, er brauche noch ein bisschen, aber er treffe sicher noch während der Heizperiode ein. Sie müsse nichts zum Essen vorbereiten, so würden sie Zeit sparen für ihre Hauptaufgabe.
Sonja A. musste fürchten, dass ihr Partner wieder einmal spät kommt. Sie musste annehmen, dass er, der Gehetzte, noch eine Weile bei seiner Meteomedia in Gais im Appenzellerland sitzen würde, Fahrzeit im Volvo S80: vielleicht vier Stunden. Sie erinnerte ihn daran, dass bei ihr um 23 Uhr die Heizung stoppt. Jörg Kachelmann beruhigte sie, er sei vorher da. Es folgen für den Straffall zentrale Sätze. Es gibt in jedem Fall Essen, schrieb Sonja, sie habe schon vorgekocht. Jörg: Okay, dann vielleicht nachher … Sonja: Genau.
Im Dezernat 13 hakt die Befragerin nach. Karen M. fragt, wann denn Sonja A. den Brief mit dem Satz «Er schläft mit ihr!» gefunden habe. Vielleicht um 17 Uhr, antwortet Sonja A., nach dem Chat, nein, jetzt falle es ihr wieder ein: Sie sei nochmals in der Stadt gewesen, einkaufen. Sonja A. entschuldigt sich, dies vergessen zu haben. Um 16 Uhr sei sie los, für eine Stunde, wieder Zuhause, habe sie den Briefkasten geöffnet, den anonymen Brief rausgenommen und vielleicht auch Werbung, dann sei sie hochgegangen.
Solche «Erinnerungsmängel», gerade bei Uhrzeiten, seien nichts Außergewöhnliches bei Zeugen, wird Aussagepsychologin Luise Greuel schreiben. Der Professorin aus Bremen wird in elf Stunden Exploration aber auffallen, dass Sonja A. gezielt angebliche Lücken in ihrer Erinnerung geltend macht, um glaubhafter über erfundene Erlebnisse zu erzählen – gerade in der Videovernehmung, deren Abschrift 43 Seiten umfasst. Ein Beispiel dafür findet sich oben auf Protokollseite 18. Dort wird Sonja A. zitiert, wie sie schildert, sie sei einmal vor Jahren, auf der Rückreise von Oklahoma, ein paar Tage in Kanada gewesen, in Vancouver, einen Teil davon mit Jörg. Die Befrager nutzen die Gelegenheit, um einem Rätsel auf die Spur zu kommen. Sie haken ein und fragen, ob sie denn in Kanada Bekannte habe. Nein, antwortet Sonja A. Horst D. will wissen, ob sie einen oder eine Chris kenne. Sonja A. fragt zurück: Chris? Horst D.: Einen Mann oder eine Frau in Kanada, die diesen Namen tragen? Sonja A. zögert, doch sie verneint. Dann ergänzt sie von sich aus, was im Nachhinein wie eine verbale Flucht wirkt: dass sie in Vancouver ein paar Tage die schöne Stadt angeguckt habe, das Aquarium und so, aber sie habe keine Leute kennengelernt.
Die Polizei will wissen: Sie kennen auch keinen Frank? Sonja A. tut, als würde sie überlegen. Sie muss auch überlegen, denn spätestens in diesem Augenblick muss ihr klar geworden sein, dass die Ermittler mehr wissen, als ihr lieb sein kann. Vielleicht will sie jetzt Zeit schinden, um die neue Situation einzuschätzen. Sie sagt einfach mal nichts. Worauf Horst D. ihr ein Stichwort gibt: Einen Deutschen vielleicht? Es vergehen wieder Sekunden,
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