Die Akte Kachelmann
dramatische Botschaften verschickt.
Doch, so müssten sich Staatsanwaltschaft und Gericht fragen, sind die verstörenden Texte in ihrer Gesamtheit tatsächlich ein Hinweis auf eine psychische Störung des Verfassers? Oder zeigen die krassen Ausreden aus der Vergangenheit etwas ganz anderes? Jedenfalls offenbaren sie, dass Jörg Kachelmann ab und zu merkwürdige Dinge gemailt hat. Als «Patient» hat er sich mit der Nachricht im Advent 2003 bei mindestens zwei Geliebten einen Freiraum verschafft, um die Festtage bei einer dritten Partnerin und den gemeinsamen Kindern in British Columbia zu verbringen. Dorthin war er kurz zuvor ausgewandert.
Die Vernehmung in Schwetzingen dauert schon fast eine Stunde, als die Ermittler von Lena G. wissen wollen, ob sie von Jörg Kachelmanns Parallelbeziehungen gewusst habe. Nein, sagt sie, sonst wäre sie weg gewesen. Im Aussageprotokoll, das die Befragte eigenhändig am Computer redigiert, steht ein Ausrufezeichen hinter diesem ihrem Satz.
Die Polizei versucht nun herauszufinden, auf welchen mysteriösen Wegen die Flugticket-Kopien zu Sonja A. gelangt sind. Sie wird Fingerabdrücke nehmen von Lena G. und fragen: Wo sind Sie am 6., 7. und am 8. Februar 2010 gewesen? – Krank im Bett. Waren Sie mal in Schwetzingen? – Heute zum ersten Mal.
Lena G. berichtet weiterhin, sie habe Jörg Kachelmann gebeten, sie nicht zu betrügen, es ihr zu sagen, wenn es eine andere gäbe. Die Businessfrau, die stets so selbstsicher wirkt, weint nun. Die Vernehmung wird für eine Viertelstunde unterbrochen. Danach geht es um Kinder, Heiraten, Zusammenziehen, um Dinge, die für sie immer konkreter geworden sind und die es doch nie wurden.
Nun stellt die Polizei dieselbe Frage wie in der Vorwoche die «Bild»-Zeitung: Besitzt Herr Kachelmann zwei Gesichter? Das, antwortet Lena G., könne sie nicht sagen. Sie erwähnt nun aber den verstörenden Link, den sie von ihm zugeschickt bekommen hat, kurz nach seiner Landung in Kanada Anfang Februar. Ob Sie die E-Mail mit diesem Link der Polizei geben könne? Lena G. zögert. Da fühle sie sich nicht wohl, sagt sie laut Protokoll. Jörg Kachelmann sei ihr immer relativ normal vorgekommen. Doch dann öffnet sie ihr Google-Mailkonto und druckt den Nachrichtentext aus, den die Kripo unbedingt haben will.
Dann folgt die Frage, deren Antwort die Verteidigung oft wiederholen wird. Wie sie denn heute zu Herrn Kachelmann stehe? «Es hört sich böse an», holt Lena G. aus, «aber nach all dem, was er mir angetan hat, freue ich mich über jeden Tag, den er im Knast sitzt.» Die Worte werden Jörg Kachelmanns Seite als Beleg dafür dienen, dass hier eine Rächerin aussagt. Lena G. wird betonen, ihre Worte seien Ausdruck gewesen von «Enttäuschung, Sarkasmus und Ironie».
Fast fünf Stunden schon dauert die Vernehmung in Schwetzingen an. Nun, ganz zum Schluss, fragt die Polizei etwas, was sich Lena G. schon seit Monaten fragt: Wer könnte Christina Brandner sein? Die Antwort lautet: Keine Ahnung.
Vorgekocht
Wer ist Christina Brandner? Diese Frage wird Kriminalhauptkommissar Horst D. am 30. März 2010 auch Sonja A. stellen. Die Radiomoderatorin ist aufgefordert worden, in der Polizeidirektion Heidelberg zu erscheinen. Im Dezernat 13, das sich unter anderem mit sexueller Gewalt gegen Kinder beschäftigt, soll die vierte «Geschädigten-Vernehmung» stattfinden, die erste vor laufender Kamera. Kurz nach elf Uhr empfängt Horst D. Sonja A. im Foyer. Die Anzeigeerstatterin ist pünktlich gekommen, begleitet von ihrem Rechtsanwalt Thomas Franz.
Sonja A. wirkt geschwächt. «Beim Hochlaufen», wird Kriminalhauptkommissar D. im Zeugenstand berichten, «kam sie nicht die Treppe zum ersten Obergeschoss hoch. Sie war körperlich sehr stark in Anspruch genommen. Ich hatte den Eindruck, dass ich sie stützen muss.» «Alles Theater», wird die Verteidigung finden, gespielt «für einen gutgläubigen Beobachter». Sonja A. selbst wird erklären, ihr sei es an jenem 30. März 2010 nicht gut gegangen, sie habe Halsschmerzen gehabt. Doch auch dies ist, wie so vieles, für Kachelmanns Seite «Teil einer Inszenierung».
Im Vernehmungsraum stehen ein Regal voller Plüschtiere und zwei Couches. Der Kriminalhauptkommissar nimmt auf der einen Seite Platz, um sich herum legt er Papiere zurecht, seine Kollegin Karen M. und Sonja A. setzen sich auf die andere. Rechtsanwalt Franz und ein Polizeitechniker befinden sich im Nebenzimmer, doch sie sind zugeschaltet, als die Befragung beginnt. Das
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