Die Akte Kachelmann
dem Stockwerksbeamten haben wir montags bis freitags um sechs Uhr unsere Runden durch die Flure gezogen: Der Beamte macht die Tür auf und schaut, ob der Häftling noch lebt, und wir laufen hinterher, verteilen Putzmittel und die Post. Außerdem musste ich die Klos putzen.»
Wie er denn zu der Arbeit gekommen sei, wollen die Interviewer vom Interviewten wissen, der – auch er – während des GesprächsTränen vergießt. «Am Anfang haben alle gedacht: Der Kachelmann hat ein Prinzessinnen-Privileg, der macht das nicht», erzählt er. «Ich habe mir aber die Vor- und Nachteile erklären lassen und dann sofort zugesagt: Als Schänzer hatte ich nämlich eine sogenannte eingeschränkte Innenlockerung. Das heißt: Meine Tür war tagsüber größtenteils offen, ich konnte auf den Flur hinaustreten – während die anderen de facto 23 Stunden in ihrer Bude bleiben müssen.»
Eine zutiefst enttäuschte Lena G. hat es noch vor dem Flugverbot aus Deutschland dorthin geschafft, wohin sie oft wegen des neuen Hausreinigers 1/3 der JVA Mannheim gejettet ist: nach Vancouver. Meteomedia hat ihr das Ticket bezahlt. Lena G. hat der Firmenleitung gesagt, sie müsse ihre Sachen in British Columbia abholen und habe kein Geld dafür. Doch allein auf die Ranch neben dem Wetterturm am Lake Crescent, in dem sie fast jeden zweiten Monat gewesen ist, darf sie nicht. Ein Angestellter von The Weatherman Inc. folgt ihr auf Schritt und Tritt, als sie dort ihr Hab und Gut einpackt. Lena G. fühlt sich überwacht. Sie muss annehmen, dass Jörg Kachelmann ihr einen Aufpasser hinterhergeschickt hat – was ihre Wut auf den Inhaftierten noch steigert. Dabei war die schon vor ihrem Abflug grenzenlos gewesen. Einer Schwetzinger Polizeibeamtin hatte Lena G. am Telefon gesagt, sie wünsche sich, er solle «im Knast verrecken».
Am 11. April 2010 präsentiert die «Bild am Sonntag» Lena G., die bereits in Kanada weilt, als «neue Geliebte» Jörg Kachelmanns. Am selben Tag reicht Reinhard Birkenstock bei der Staatsanwaltschaft gleich drei Stellungnahmen zugunsten seines Mandanten ein. Ein Psychiatrieprofessor, eine Diplompsychologin und eine Fachärztin für Neurologie äußern allesamt starke Zweifel an den Aussagen von Sonja A.
Zuvor hat Birkenstock den Ermittlern bereits drei Expertisen von Rechtsmedizinern übergeben. Der Tenor auch hier: Es kann kaum so gewesen sein, wie Sonja A. es schildert. Mit der geballten Ladung Parteigutachten erreicht Birkenstock vor allem eines: Die Staatsanwaltschaft gerät unter Druck. Sie tut etwas, was Birkenstock schon seit Tagen, vielleicht Wochen, fordert.
Sie ordnet eine aussagepsychologische Begutachtung der Radiomoderatorin an – wenn auch widerwillig. Noch in ihrer Anklageschrift wird die Staatsanwaltschaft die Meinung vertreten, ein solches Gutachten sei nicht zwingend. Sonja A. sei erwachsen und nicht psychisch krank. Aber vielleicht wird Staatsanwalt Oltrogge dies dann auch nur schreiben, weil er ahnt, dass das Resultat der Expertise von Professorin Luise Greuel irgendwie nicht in sein Bild passt.
Lena G. ist erst ein paar Tage in Übersee, da verhindert der Eyjafjallajökull die Rückkehr nach Hause. Seine Aschepartikel, so fürchten die Fluggesellschaften, könnten die Düsentriebwerke beschädigen. Hunderttausende Flugpassagiere sitzen fest, in Europa, weltweit. Lena G. wollte noch Jörg Kachelmanns Kindern Bye-Bye sagen und dann heimfliegen. Nun verzögert sich der Abschied. Lena G. muss warten. Wie lange, ist ungewiss. Es werden zwei Wochen, in denen sie jemand ganz gut kennenlernt, von der sie bislang nur viel Schlechtes gehört hat: Jörg Kachelmanns zweite Exfrau, ihre einstige Nebenbuhlerin. Mit ihr wird sie sich bald bestens verstehen, die beiden tauschen sich aus. Lena G. verbringt die meiste Zeit ihres Zwangsurlaubs in Bridge Lake. Es entwickelt sich, was Luise Greuel eine schicksalhafte Solidarbeziehung nennen wird und andere eine Verschwörung. Auch Sonja A. wird bald eingebunden.
Anfangs sind die Zeitungen voller Schlagzeilen über den Eyjafjallajökull, seine Aschewolke, die Ungewissheit, den wirtschaftlichen Schaden und all die kuriosen Auswirkungen, wenn einmal nichts fliegt. Doch mit den Tagen gibt es kaum Neues über die stabilen Partikel in der Luft zu berichten. Ganz wie im Fall Kachelmann. Dort dringen kaum mehr neue Ermittlungsergebnisse an die Öffentlichkeit. Das Gentlemen’s Agreement zwischen Verteidigung, dem Anwalt von Sonja A. und der Staatsanwaltschaft scheint zu halten.
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