Die Akte Kachelmann
raucht Luise Greuel eine rote Marlboro, vermutlich überlegt sie, was sie von der ganzen Sache halten soll.
Messer – Fingerabdrücke – DNA – Blutspuren – jeder Krimifan ahnt: Um den Verdächtigen ist es geschehen. Der Täter ist überführt. Und so werden am 22. April 2010 Millionen Menschen denken: Der Kachelmann war es – hab ich von Anfang an gewusst. Und vielleicht noch mehr revidieren ihre ursprüngliche Ansicht: Der Kachelmann war es – hätte ich ihm nicht zugetraut. Und dann gibt es noch jene, die zweifeln: Vielleicht ist die Sache mit dem angeblich so brisanten Beweisstück doch nicht so eindeutig: Vielleicht hat Jörg Kachelmann das Messer ja beim Essen angefasst oder beim Kochen. Aber kaum jemand denkt, dass es eine Falschmeldung sein könnte, die die seriöse «Süddeutsche» in die Welt gesetzt hat.
Wissen kann dies zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Verteidigung des Vorverurteilten. Die Erkenntnisse des Kriminaltechnischen Instituts des Landeskriminalamts Baden-Württemberg liegen ihr nicht vor. Ebenso wenig, zumindest nicht offiziell, hat die Staatsanwaltschaft Mannheim Kenntnis von den Resultaten aus dem Labor. Der Diplombiologe des LKA, der die Spuren am Tramontina-Messer untersucht, wird sein Gutachten erst am 26. April einreichen, vier Tage nach den Breaking Kachelmann-News.
In ihrem vielleicht wichtigsten Gespräch in der gesamten Strafsache 404 Js 3608/10 erzählt Sonja A. der Aussagepsychologin Greuel, wie geschockt und angeekelt sie gewesen sei, nachdem Jörg Kachelmann zugegeben hätte, sie sei nicht die Einzige. Seinen Anblick habe sie nicht mehr ertragen. Wie er nun dasaß bei ihr auf der Couch und siemit eisigen Augen anstarrte. Geh! Will sie gesagt haben. Bitte! Er erhob sich. Doch statt aus der Tür sei er in die Küche gegangen.
Die Verteidigung fühlt sich über den Tisch gezogen. Sie hat keine andere Erklärung, zumindest keine plausible, als dass tatsächlich die erwähnten «Ermittler» der «Süddeutschen» die Informationen über die Spuren am Tomatenmesser zugespielt haben – und das gezielt, nachdem die «Brieflüge» aufgeflogen ist. Die Strafverfolger haben in den Augen von Kachelmanns Anwälten damit das Gentlemen’s Agreement gebrochen. Bislang hat es einigermaßen geklappt mit der gemeinsamen Devise «Keine Schlammschlacht!». Ab sofort gilt die Abmachung nicht mehr. Jörg Kachelmann sei zur «medialen Notwehr» gezwungen worden, wird Medienanwalt Höcker später erklären.
Sonja A. zeigt Luise Greuel, wie er ihr das Messer mit der rechten Hand an die Kehle gedrückt haben soll. Haben sie, fragt Greuel, Todesangst gehabt? Sie habe, so Sonja A., immer nur das Messer gespürt, die ganze Zeit, während der ganzen Vergewaltigung. Was genau geschehen sein soll, vermag sie nicht zu sagen. Alles bleibt vage, wird Greuel schreiben, und auffallend oberflächlich.
Erst recht hintergangen fühlt sich Kachelmanns Anwaltsteam, als es Tage später das LKA-Gutachten studiert: Die Analyseresultate, die in aller Munde sind, gibt es so nicht. Beim scheinbar eindeutigen kachelmannschen Erbgut am schwarzen Plastikgriff handelt es sich um eine Mischspur an der «Nachweisgrenze». Die winzigen Teilchen, wohl Hautschüppchen, enthalten mehr DNA-Merkmale von Sonja A. als von Jörg Kachelmann.
Der renommierte Rechtsmediziner Bernd Brinkmann aus Münster, Experte der Verteidigung, wird festhalten, es wäre ein grober Fehler, festzustellen, es befände sich DNA von Jörg Kachelmann am Messer. Ein noch gröberer Fehler wäre es, zu behaupten, dass der Beschuldigte den Griff angefasst habe.
Die amtliche und öffentliche Bestätigung für diesen Befund folgt mit acht Monaten Verspätung. Es wird wie eine offizielle Korrekturder Falschmeldung in Presse, Funk und Fernsehen wirken, was der LKA-Biologe am 21. Prozesstag im Saal 1 des Mannheimer Landgerichts ausführt. Im Foyer, in dem er warten musste, steht dann bereits eine deckenhohe Rottanne. Sie ist mit roten, silbernen und gelben Kugeln sowie elektrischen Kerzen geschmückt.
Die gezielte Indiskretion an die «Süddeutsche», wenn es denn eine war, wird sich im vorweihnachtlichen Mannheim als Bumerang erweisen. «Der Angeklagte ist als Verursacher der Spur nicht auszuschließen», wird der Spurenanalytiker in seinem mündlichen Gutachten zwar einschränken, «aber auch eine Sekundärübertragung ist möglich.» Denkbar ist für den Stuttgarter Experten die Variante, dass Sonja A. zuerst Jörg Kachelmann angefasst hat und
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