Die Akte Kachelmann
Wesentliche fokussieren», weiß der ausgemusterte Soldat, der in der Schweizer Armee einst im Informationsregiment 1 der Abteilung für Presse und Funkspruch diente. «Ich habe noch nie so viele weinende Männer im Arm gehalten wie im Knast», erzählt er. Seinem – wie der damals noch 51-Jährige selbst findet – «hohen Alter geschuldet» sei gewesen, dass er «für einige die tröstende Bezugsperson wurde». Neben dem Trösten lag das Augenmerk wohl auf der Verteidigung in eigener Sache und dem Putzen der Toiletten.
Aber jetzt, plötzlich, gucken zahlreiche Mitgefangene ihren Hausreiniger schief an. Und das gehört noch zum Harmloseren. Die größte Qualitätstageszeitung Deutschlands hatte am 22. April 2010 getitelt: «Messer mit Fingerabdrücken». Und im Untertitel schrieb die «Süddeutsche»: «Die Ermittler im Fall Kachelmann prüfen einen brisanten Fund aus der Wohnung des mutmaßlichen Opfers». Im Text steht: «An dem Messer fanden die Ermittler gemäß eigenen Angaben Teile von Fingerabdrücken und DNA von Kachelmann.»
«Monster» möchte sie ihn nennen, wird Sonja A. Mitte Mai der Aussagepsychologin Luise Greuel sagen, als sie anfängt, über ihr Leben und das von Jörg Kachelmann zu sprechen, über ihre Liebe, die sich als einseitige Liebe entpuppt hat. Elf Stunden lang, verteilt auf zwei Tage, wird Greuel, eine Frau mit ernsten Augen, sie befragen, subtil, einfühlsam und doch direkt, tabufrei. Während der ganzen langen Exploration in der Schwetzinger Polizeidienststelle kommt Sonja A. das Wort Monster dann doch nur zwei weitere Male über die Lippen. Wenige Male sagt sie «Schwein», aber meistens nennt sie den Vornamen, den sie vermeiden wollte.
Vergewaltiger sind in der Gefangenen-Hackordnung ganz unten angesiedelt. «Schlimmer dran sind nur noch Kinderschänder», wird Jörg Kachelmann nach 131 Tagen Haft wissen. «Für Männer in dieserKategorie ist das Leben im Knast der Vorhof zur Hölle.» Kinderschänder und Vergewaltiger werden geschnitten, sie werden gepeinigt. Da setzt es ein Schimpfwort oder eine Gemeinheit und dort einen Ellenbogen oder eine Faust. Vorverurteilungen reichen für die knastinterne Selbstjustiz. «Es wird dann stiller um einen», wird Jörg Kachelmann den «Spiegel»-Interviewern sagen, als sie ihn auf die Phasen ansprechen, in denen alles gegen ihn zu sprechen schien. Er wird aber nicht öffentlich darüber reden, wie es ihm tatsächlich ergangen ist, als die Nachricht von den angeblich so deutlichen Spuren am Messer die Runde machte – und als erst wenige Eingeweihte wussten, dass Sonja A. kurz zuvor Lügen hatte eingestehen müssen.
Sonja A. spricht schnell, wenn Luise Greuel sie etwas fragt. Stundenlang bleibt sie konzentriert, aufmerksam. Ihre Erzählung stockt erst am Schluss des ersten Untersuchungstags, als sie die Tat frei schildern soll, der sie zum Opfer fiel. Bei der Vorgeschichte fließen die Worte noch. Sie verfügt auch über eine Grundlage aus der Weltliteratur, auf die sie Bezug nimmt: Robert Louis Stevensons Roman «Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde», in dem sich ein gutherziger Arzt immer wieder in einen mörderischen Doppelgänger verwandelt. Viele, auch Rechtspsychologen, bezweifeln, dass sich Jörg Kachelmann in jener Februarnacht von einem Dr. Jekyll in einen Mr. Hyde verwandelt habe. Doch Sonja A. wird erzählen, er habe sich so dargestellt und gesagt, er sei zu feige gewesen, ihr die Wahrheit früher einzugestehen.
Sie sei, soll er ihr versichert haben, der lichte Moment in seinem Leben. Als «Erfindung», «Herabsetzung» und «Spekulation» wird Verteidiger Johann Schwenn den Bezug zur «erdachten Romanfigur» bezeichnen. Trotzdem wird diese angebliche Selbstbeschreibung Jörg Kachelmanns bis zum 5. Mai 2011 im Raum stehen. Dann, am 39. Prozesstag, wird der Psychiater Hartmut Pleines, der Jörg Kachelmann den gesamten Prozess über lang beobachtet hat, sagen: «Von Dr. Jekyll und Mr. Hyde bleibt nichts übrig. Das ist ein literarisches Subjekt, das mit einer Dämonisierung einhergeht. Das entsprichtdem Bedürfnis von Menschen, das Grauenvolle bei anderen und nicht bei sich selbst zu suchen.»
Fast ein Jahr vor dem mündlichen Gutachten des Psychiaters Pleines erzählt Sonja A., sie habe Jörg Kachelmann gefragt, wie viele Frauen es waren und sind. Er habe nichts gesagt. Mehr als fünf? Keine Antwort. Mehr als zehn? Wieder nichts. Da habe sie gewusst: Es sind zu viele. Sonja A. braucht eine Pause, frische Luft. Vielleicht
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