Die Akte Kachelmann
habe alles so erzählt, wie es war. Sie hasse Lügen. Er lüge.
Sonja A. ist schon fast aus der Tür, da sagt ihr Luise Greuel noch, sie wolle ehrlich sein. Der Fall sei schwierig, komplex, alles andere als eindeutig. So stellt es Sonja A. dar. Ich bin nicht glaubwürdig, wird sie sich erinnern, habe sie gedacht. Das wars.
Kaum ist Sonja A. aus der Tür, setzt sich Luise Greuel mit Lars-Torben Oltrogge in Verbindung. Der Staatsanwalt hat auf ihren Anruf gewartet. Er notiert sich, was die Aussagepsychologin für ihn vorab zusammenfasst: Keine psychiatrischen Auffälligkeiten schränkten die Aussagetüchtigkeit der Zeugin ein. Sonja A. habe – so steht auf dem Vermerk in krakeliger Handschrift – ihre bisherigen Aussagen bestätigt. Zum eigentlichen Tatgeschehen habe sie erneut wenige Details geschildert. Das Ergebnis des Gutachtens sei nicht absehbar, die Sachlage so komplex wie erwartet. Ob sie denn eine vorläufige Bewertung abgeben könne? Erst Ende Mai, lautet Greuels Antwort.
Doch drei Wochen mag sich Oltrogge nicht gedulden. Er macht sich daran, die Anklageschrift fertigzustellen. Später wird er seine Eile damit rechtfertigen, bei Haftsachen gelte ein Beschleunigungsgebot.
Und so schreibt Lars-Torben Oltrogge, Jörg Kachelmann habe sich der besonders schweren Vergewaltigung schuldig gemacht.Seine Anklage beruht vor allem auf der Überlegung, dass keine kriminalistische Erkenntnis gegen die Tatversion von Sonja A. spräche. Der Staatsanwalt versucht, eine Indizienkette zu knüpfen. Er fängt beim Messer an. Die DNA-Befunde ließen sich, so behauptet er, mit den Angaben der Anzeigeerstatterin in Einklang bringen. Ebenso, gemäß Rechtsmediziner Rainer Mattern, die Verletzungen. Als bemerkenswertes Detail bezeichnet es der Ankläger, dass eines der kleinsten Küchenmesser neben dem Bett lag. Sonja A., so seine Überlegung, hätte wohl ein Bedrohlicheres genommen, wenn sie eigenhändig eine Spurenlage nach einer Vergewaltigung hätte nachstellen wollen. Aber vielleicht – und das steht nicht in der Anklageschrift – musste sie ja das zweitkleinste nehmen, weil Jörg Kachelmann schlicht und einfach kein Bedrohlicheres angefasst hat bei seinem letzten Besuch bei ihr. Im Tamponfaden mit dem fast vollständigen DNA-Muster Kachelmanns sieht Oltrogge – so nennt er es – ein originelles Detail. Entscheidend erscheint dem Staatsanwalt, was er selbst bei der Auswertung der Laptop-Festplatte von Sonja A. entdeckt hat: das «warum.doc». Für ihn dokumentiert das «Tagebuch» voller Selbstzweifel und Belastungstendenzen kaum eine erfundene Vergewaltigung. Nicht in der Anklageschrift bedacht wird die Möglichkeit, dass Sonja A. es vielleicht nachträglich erstellt hat, vielleicht als Gedächtnisstütze, um sich bei ihren Aussagen nicht in Widersprüche zu verstricken. Ganz am Schluss seiner elf Seiten kommt Oltrogge auf die Expartnerinnen zu sprechen. Die Aussagen mehrerer Zeuginnen zeigten eines: Es sei unzutreffend, wenn der Beschuldigte behauptet, er sei zu einer solchen Tat «überhaupt nicht fähig» und würde sich bei Streit eher zurückziehen.
Von der Anklage erfährt Reinhard Birkenstock erst, nachdem Lars-Torben Oltrogge seine Schrift beim Landgericht eingereicht hat. Der Staatsanwalt ruft den Rechtsanwalt an und schildert ihm, was er gerade getan hat. Jörg Kachelmanns Strafverteidiger ist selten sprachlos. Aber jetzt scheint er es zu sein.
Oltrogge hat eine weitere Überraschung parat. Die Ermittler konnten die Frau ausfindig machen, die ihnen ganz am Anfang ohne Namens- und Adressangabe mitgeteilt hatte, Jörg Kachelmann seinicht zurechnungsfähig. Geschrieben hatte dies eine verheiratete Frau aus Berlin. Die Schwetzinger Polizei reiste zu ihr in die Hauptstadt. Die Zeugin sagte aus, sie habe vor einem Jahrzehnt, in jungen Jahren, eine kurze Affäre mit dem Wettermoderator gehabt. Beendet habe sie die Beziehung, nachdem Jörg Kachelmann sie mit einem Rohrstock geschlagen habe. Nach dem angeblichen Vorfall hatte sie sich nicht bei der Polizei gemeldet. Als sie aber von der Verhaftung hörte, tat sie es, obwohl ihr Ehemann dagegen war.
An allzu viele Details von damals kann sich die mittlerweile über Dreißigjährige allerdings nicht mehr erinnern. Trotzdem eröffnet die Staatsanwaltschaft ein weiteres Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung. Sie stellt es aber sogleich – zumindest vorläufig – wieder ein, weil das Vergewaltigungsverfahren Vorrang hat. Die Berlinerin wird als letzte der
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