Die Akte Kachelmann
«Beziehungszeuginnen» aussagen.
Mit der Anklage ist das Gentlemen’s Agreement zwischen den Strafverfolgern und den Verteidigern endgültig aufgekündigt. Der Kampf um die öffentliche Meinung ist bereits im Gange. An die Devise «Keine Schlammschlacht!» hält sich niemand mehr. Das bekommt bald auch die Berlinerin zu spüren. Bei ihr vor der Haustür in Berlin-Mitte steht schon bald ein Reporter der «Bild»-Zeitung. Er kommt, so wird die Zeugin vor Gericht aussagen, von der Redaktion Köln.
Am Dienstag, den 25. Mai, kurz nach 15 Uhr händigt ein Kurier Jörg Kachelmann die Anklageschrift aus. Vier Stunden später schreibt Luise Greuel Lars-Torben Oltrogge eine kurze E-Mail, die es in sich hat: Die Qualität der Aussage von Sonja A. sei mit zu vielen Mängeln behaftet, als dass sich der Erlebnishintergrund in Bezug auf die inkriminierte Vergewaltigung belegen ließe. Auf Nicht-Aussagepsychologinnen-Deutsch heißt das: Ich kann mit meinen wissenschaftlichen Methoden nicht nachweisen, dass Sonja A. die Tat, von der sie erzählt, tatsächlich erlebt hat. Mehr gibt Luise Greuel noch nicht preis.
Am Tag, an dem die Anklageerhebung die Schlagzeilen dominiert, ist Thomas Franz in der Talkshow «Kerner» als «Opfer-Anwalt» zugeschaltet.Von den Zweifeln der Aussagepsychologin weiß er bei seinem quotenträchtigen kurzen TV-Auftritt am 20. Mai 2010 nichts. Franz redet auf Sat 1 mehr, als er im ersten halben Jahr Verhandlung in der Strafsache Jörg Kachelmann insgesamt reden wird. «Meine Mandantin ist erleichtert», sagt der Rechtsbeistand ganz am Anfang. In der Presse, wendet Johannes B. Kerner ein, sei zu lesen, seine Mandantin würde sich freuen. «Herr Kerner», antwortet Thomas Franz mit Nachdruck in der Stimme, «ich kann ihnen versichern, meine Mandantin kennt ab dem Tag keine Freude mehr. Sie lebt in Angst. Sie ist, wie jedes andere Opfer, das eine solche Tat erleben muss, traumatisiert. Und wir können nur hoffen, dass sie mit der entsprechenden fachtherapeutischen Hilfe das Trauma überstehen wird.»
Der Moderator erwähnt, im «Spiegel» sei zu lesen, die Frau habe ihre Aussage korrigieren müssen. Das, was Sonja A. selbst als «fürchterliche Falschaussage» bezeichnet, spielt Franz nun zu einer Nebensächlichkeit herunter. Die Staatsanwaltschaft jedenfalls, sagt er, schenke seiner Mandantin Glauben. «Ich weiß nicht», fügt er noch hinzu, «ob man sich ausmalen kann, was das für einen Menschen bedeutet, auch gegenüber seiner Familie, gegenüber Freunden, wo es dann heißt: Ja, hast Du jetzt doch gelogen? Stimmt es doch nicht?» Das seien «Tritte in den Magen» einer durch die Tat Traumatisierten. «Die Lehre vom Opfer spricht von sekundärer und tertiärer Viktimisierung.»
Montags
Nach vier intensiven Kachelmann-Monaten fährt Staatsanwalt Oltrogge in den Urlaub. Eine seiner letzten Amtshandlungen vor der Sommerpause ist die Erteilung eines «Gutachtensauftrags». Es geht um die Frage, wie sich Erinnerungslücken, Widersprüche, Auslassungen nach traumatischen Erlebnissen erklären lassen. Damit befassen soll sich kein unabhängiger Experte, sondern Günter Seidler, der Therapeut von Sonja A. Auch Oltrogge müsste wissen: Als Gutachter kommt Seidler nicht in Frage, denn er ist seiner Patientin verpflichtet und damit parteiisch. Ein Verfahrensstreit ist so vorprogrammiert. Damit ist auch eine weitere Runde in einem Wissenschaftsstreit angesetzt. Psychologen, Psychiater liefern sich seit Jahren eine Auseinandersetzung über die Frage, in welcher Weise schreckliche Erfahrungen die Erinnerung beeinflussen.
Die halbe Staatsanwaltschaft Mannheim macht Ferien. Oltrogges Vorgesetzter Oskar Gattner hält fast allein die Stellung, als die Viktimisierung von Sonja A., wenn es denn eine ist, einen neuen Grad erreicht. Die Verteidigung hat zum großen publizistischen Gegenschlag ausgeholt. Der «Spiegel» macht mit. Die Ausgabe vom 7. Juni mit dem Kachelmann-Titel verkauft sich besser als alle anderen des Jahres 2010. Sie beschert Oberstaatsanwalt Gattner Überstunden. Bei ihm steht das Telefon nicht mehr still, bis er das Sekretariat bittet, keine Journalistenanfragen mehr durchzustellen. Alle wollen dasselbe wissen. Ob es denn stimme, was das Hamburger Nachrichtenmagazin schreibe: dass seine Behörde «vorgeprescht» sei, dass sie, «freundlich gesagt, getrickst» habe.
Auch Luise Greuel bittet um einen Rückruf. Sie zeigt sich in einerE-Mail nicht nur irritiert, sondern geradezu entsetzt, dass Teile
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