Die Akte Rosenthal - Seelenfischer-Trilogie 03
Urahnen, Alexander von Stetten alias Piero di Stefano, hatten sein Leben für immer verändert. Aber nicht nur seines, sondern auch das seines Vaters, Heinrich von Stetten.
Vater und Sohn hatte der Inhalt des Tagebuchs erschüttert. Beide hatten sich fragen müssen, ob darin die Erklärung für die rätselhaften Unglücksfälle begründet lag, die die Familie in jeder Generation traf. Die Boulevardpresse hatte sogar begonnen, von einem „Von-Stetten-Fluch“ zu sprechen und Parallelen zu den amerikanischen Kennedys gezogen.
Lukas' Vater Heinrich, der sein Leben lang stets rational begründete Entscheidungen getroffen hatte, hatte zum ersten Mal erkennen müssen, dass Schicksal eine spirituelle Gleichung war, die sich aus Schuld und Sühne zusammensetzte. Diese Erkenntnis hatte einen Wandel in seinem Denken ausgelöst. Er hatte bald darauf begonnen, einzelne Unternehmenszweige zu verkaufen und weitere Teile in eine Stiftung zu überführen.
Eine kleine Hand zupfte an Lukas' Ärmel und schreckte ihn auf. Sein Herz machte einen hoffnungsfrohen Satz. Doch es war nicht Matti, sondern ein Junge aus Mattis Grundschule, ein Erstklässler, den er nur flüchtig vom Sehen kannte.
Die Anspannung hatte Lukas Wahrnehmung auf merkwürdige Weise geschärft und er nahm alles an dem Jungen überdeutlich wahr: Den Schmutzfleck auf der Wange, die Rotzspuren an der Nase und die schmuddelige kleine Hand, die ihm jetzt einen zerknüllten Zettel entgegenstreckte.
Wie in Trance griff Lukas danach. Er schaffte es kaum, ihn mit seinen zitternden Fingern zu glätten. Er las die kurze Nachricht. Danach kniete er sich vor dem Jungen nieder, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte:
„Wie heißt du, mein Junge?“
„Philipp.“
„Philipp. Ich bin Lukas. Kennst du meinen Sohn Matti?“
„Ja, aber die von der dritten Klasse reden nicht mit uns.
„Philipp, es ist sehr wichtig, dass du mir sagst, wo du den Zettel gefunden hast.“
„Ich hab ihn gar nicht gefunden. Ein Mädchen hat ihn mir gegeben.“
„Ein Mädchen? Welches Mädchen? Mattis Mutter?“
„Nö. Die ist doch eine Frau.“
„Natürlich, entschuldige. Wie sah das Mädchen aus?“
„Weiß nicht genau, wie Mädchen halt aussehen.“
Lukas begriff, dass er so nicht weiterkommen würde. Er musste seine Angst und seine Ungeduld im Zaum halten und durfte den Jungen mit seinen Fragen nicht überfordern.
„Okay, Philipp. Hör mir zu. Das Mädchen. Kennst du es aus der Schule?
„Kann sein.“ Wunderbar, eine weitere kryptische Antwort. Lukas' Verzweiflung erklomm neue Höhen.
Unbeeindruckt von Erwachsenengefühlswelten zog Philipp geräuschvoll seinen Rotz hoch. Lukas fingerte in seinen Hosentaschen nach einem Taschentuch, das er stets für Matti bereithielt. Der kleine Junge streckte automatisch die Hand danach aus. Dann starrte er auf das Taschentuch und schien sich sichtlich zu fragen, welchem Zweck es diente.
Lukas atmete tief durch und startete einen neuen Versuch: „Bitte, Philipp, das ist sehr wichtig. Kannst du dich erinnern, wie das Mädchen ausgesehen hat?“
„Wie alle Mädchen halt. Unten Jeans, oben fast nackig“, erwiderte Philipp mit der intakten Unschuld eines Sechsjährigen - nicht ahnend, dass er in wenigen Jahren selbst Gefallen an knappen Mädchentextilien finden würde. Er stopfte das Taschentuch in seine Hose und wischte sich die Nase an seinem Ärmel ab.
Lukas sah ein, dass es keinen Zweck hatte, den Jungen weiter zu bedrängen.
Dann aber platzte der Kleine mit etwas heraus, das Lukas einen zusätzlichen Adrenalinschub bescherte: „Puh, aber so richtig hässliche Haare hatte die. Ganz rot. Aua, Sie tun mir weh“, rief Philipp laut und versuchte, sich von Lukas frei zu strampeln. Lukas hatte nicht bemerkt, wie fest er den Jungen an den Schultern gepackt hatte. Ein Spaziergänger mit Hund drehte sich jetzt nach ihnen um und musterte sie misstrauisch. Lukas lockerte sofort seinen Griff. „Entschuldige, mein Junge. Das hast du prima gemacht. Du hast eine sehr gute Beobachtungsgabe.“
„Und, gibt es was Neues?“ Herr Martin hatte sich ihm von hinten angenähert. Lukas konnte ein Zusammenzucken nur knapp vermeiden. Er dachte an die Warnung in der Nachricht. Es war wichtig, dass er jetzt einen kühlen Kopf bewahrte.
Er wandte sich um und seine Verlegenheit war tatsächlich nicht gespielt, als er Herrn Martin die Lüge auftischte: „Ja, die ganze Aufregung war umsonst. Der Junge hier hat mir gerade einen Zettel gebracht. Magali hat bei
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