Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
Vom Netzwerk:
noch, dass er eines Tages sogar nach Königsberg gefahren ist, um noch mehr Bücher für den Jungen herbeizuschaffen, für den er sich wohl irgendwie verantwortlich fühlte, und wenn er ihn schon nicht von seinem Vater wegholen konnte, wollte er ihn wenigstens fördern. Vielleicht dachte mein Vater auch, der kleine Artur wolle nach Amerika auswandern, und wollte ihn darin unterstützen, ich weiß es nicht.«
    Rammoser machte eine Pause und füllte die Gläser auf. »Haben Sie noch Zigaretten?«, fragte er.
    Rath legte das Etui auf den Tisch und klappte es auf.
    »Bedienen Sie sich.«
    Der Lehrer zündete sich eine Overstolz an, und Rath tat es ihm gleich.
    »Jedenfalls«, fuhr Rammoser fort, »hat Vater sich selbst eines Tages verflucht dafür, dass er Artur Radlewski so viel über die Indianer zu lesen gegeben hat. An dem Tag nämlich, als man Friedrich Radlewski mit blankem, blutigem Schädel vor seiner Hütte fand. Er war verblutet. Irgendwer hatte ihn bei lebendigem Leibe skalpiert. Seine Frau lag in der Stube, grün und blau geschlagen und ohne Bewusstsein. Zuerst glaubte man, Martha sei ebenfalls tot, aber sie atmete noch. Und von Artur, der damals vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt war, fehlte jede Spur. Ebenso von seinen Büchern.«
    »Mein Gott, was für eine Familientragödie!«
    »Um Fritz Radlewski trauerte niemand. Die meisten waren froh, dass dieser Scheißkerl unter der Erde war.« Rammoser schaute Rath an. »Der alte Radlewski war einfach ein durch und durch schlechter Mensch. So etwas gibt es: Menschen, die einfach böse sind.«
    »Einem Polizisten brauchen Sie so etwas nicht zu sagen.«
    »Als Lehrer sollte ich eigentlich an das Gute im Menschen glauben und es aus jedem Schüler herausholen, aber ich sage Ihnen, in all den Jahren habe ich eines gelernt, die meisten Menschen können Gutes tun und Böses, aber es gibt einige wenige, die sind einfach durch und durch böse, sie sind es schon mit zehn Jahren, und sie sind es auch noch mit fünfzig und mit hundert.«
    Rath nickte nachdenklich. »Vielleicht haben Sie recht. Aber man kann nicht einfach alle einsperren, die man für durch und durch böse hält.«
    »Friedrich Radlewski hatte seine Frau halb tot geschlagen«, fuhr Rammoser fort. »Sie konnte das Krankenhaus nicht einmal zu seiner Beerdigung verlassen, sie brauchte Monate, ehe sie wieder auf den Beinen war.«
    »Und Artur? Der wurde zum Kaubuk?«
    »Sie kennen den Spitznamen? Ich finde ihn nicht sonderlich passend.« Rammoser zog an seiner Zigarette. »Artur blieb tatsächlich verschwunden. Er stand unter Tatverdacht, und die Landgendarmerie hat einige Tage nach ihm gesucht, eher halbherzig, glaube ich, jedenfalls vergeblich. Aber irgendwann, noch vor dem Krieg, erzählte ein fliegender Händler, er habe im Wald hinter Markowsken eine dunkle Gestalt gesehen, eine unheimliche Gestalt, die durch die Bäume gehuscht sei, in einer unglaublichen, übermenschlichen Geschwindigkeit. Auch andere Menschen erzählten plötzlich von seltsamen Begegnungen im Wald drüben an der Grenze.«
    »Und da lebt er heute noch und erschreckt Frauen und Kinder?«
    »Er erschreckt niemanden. Er geht den Menschen eher aus dem Weg.« Rammoser goss noch einmal nach. »Anfangs muss er noch des Öfteren heimlich in die Dörfer gekommen sein, um sich mit dem Notwendigsten zu versorgen. In Urbanken fehlte plötzlich eine Gans, aus dem Krämerladen in Willkassen wurden Petroleumlampen gestohlen, aus dem Sägewerk ein ganzer Werkzeugkasten, und in Markowsken wurden dem alten Kowalski gleich fünf Karnickel aus den Ställen geholt. Und nie hatte man jemanden gesehen, höchstens einen Schatten. Dass es sich bei diesem Wesen, das sich jedem Blick entzog, nur um einen Geist, um den Kaubuk nämlich, handeln könnte, stand für die meisten fest.«
    »Dabei war es ein ganz gewöhnlicher Dieb.«
    »Eher ein Mensch, der versucht, in der Wildnis zu überleben, würde ich sagen.« Rammoser klang, als müsse er Radlewski in Schutz nehmen. Er zuckte die Achseln. »Aber die Leute hier dachten genauso wie Sie. Wegen der anhaltenden Diebstähle haben sie der Landgendarmerie gedroht, selbst nach dem Radlewski zu suchen, sollte die ihn nicht finden. Dann aber brach der Krieg aus, die Russen kamen, und die Leute hatten andere Sorgen. Außerdem hörten die Diebstähle irgendwann auf.«
    »Dann hat Radlewski den Krieg wohl nicht überlebt, was?« Rath klang enttäuschter, als er beabsichtigte.
    »Diebstähle gab es keine mehr, dafür

Weitere Kostenlose Bücher