Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
genau wir bei ihm ermitteln. Kommissar Rath scheint da nicht sehr auskunftsfreudig gewesen zu sein.«
»Erwartet Böhm denn gar keine Rückmeldung?«
»Der arme Rath weiß noch gar nicht, dass Böhm die Ermittlungsleitung übernommen hat.« Lange grinste. »Sonst wäre er wahrscheinlich etwas dienstbeflissener.«
Oder er würde gar nicht mehr anrufen, dachte Charly, sollte er erfahren, dass sie ihm wieder einmal Wilhelm Böhm vor die Nase gesetzt hatten. »Sind Sie denn in Sachen Tubocurarin weitergekommen?«, fragte sie.
Lange schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen, dass wir inzwischen alle infrage kommenden Bezugsquellen in Berlin abgegrast haben, jedenfalls alle, die uns irgendwie bekannt sind: Fehlanzeige.«
Charly konnte sich nicht helfen, aber irgendwie beruhigte es sie, dass auch die Kollegen nicht weiterkamen. Dann hatte es wohl doch nicht an ihr gelegen. Oder an Dettmann.
»Vielleicht stellt er es ja selbst her«, sagte sie, mehr zu sich als zu Lange, »vielleicht sollte man mal einen Experten fragen, was man so alles braucht, um Tubocurarin zu brauen.«
»Genau das wird der Kollege Gräf morgen tun.«
»Natürlich.« Charly nickte und schämte sich für ihre Besserwisserei. Glücklicherweise kam der Kellner. Sie bestellten, und Lange wechselte das Thema.
»Was haben Sie denn für mich? Schon irgendwas beobachten können?«
»Weniger. Beim Zwiebelschneiden leider kaum möglich.«
»Ach, Sie Ärmste.«
»Vorgestern lief’s besser. Da habe ich einen Blick in einen Ordner werfen können. Beschwerdebriefe. Waren in ziemlich harschem Ton abgefasst und klangen teilweise tatsächlich wie Erpresserschreiben.«
»Meinen Sie, Rath hatte den richtigen Riecher?«
Charly zuckte die Achseln. »Ob Riedel und Unger sich kennen, das habe ich noch nicht herausfinden können. Der Koch ist ziemlich misstrauisch. Aber dass da womöglich Lieferanten erpresst werden, das könnte ich mir schon vorstellen.« Charly holte einen Zettel aus der Tasche. »Von der Firma Lamkau habe ich leider noch nichts finden können, die Korrespondenz dürfte auch eher in Riedels Büro stehen, und wie ich da reinkommen soll, weiß ich noch nicht. Aber hier …« Sie reichte Lange den Zettel. »… hier habe ich zwei Adressen, vielleicht sollten Sie da mal nachhorchen, welchen Ärger die mit Haus Vaterland hatten. Und wie sie diesen Ärger wieder bereinigen konnten.«
Lange steckte den Zettel ein. »Sehr gut«, sagte er. »Danke.«
»Mehr habe ich leider noch nicht. Heute habe ich nichts mehr machen können. Außer meine hausfraulichen Fähigkeiten perfektionieren.«
Lange lächelte. »Was meinen Sie, wie lange werden Sie noch unentdeckt dort arbeiten können?«
»Ich hoffe, dass das nicht mehr allzu lange nötig sein wird. Sonst brauche ich irgendwann ein neues Paar Augen.«
»Na, morgen noch, und dann ist Wochenende.«
»Für Sie.« Charly quälte sich ein Lächeln ins Gesicht. »Unger hat mich schon gefragt, ob ich am Sonntag ein paar Überstunden machen kann.«
Lange nickte. Die Getränke kamen.
»Ach, da ist noch was«, sagte Charly, als der Ober sich wieder entfernt hatte, »ich habe da einen Kellner kennengelernt, der sich ganz gut auszukennen scheint.«
»Aha.« Lange zückte seinen Stift und notierte.
»Er kennt Riedel, hat er mir erzählt. Den Spirituosenfritzen, der mit Unger höchstwahrscheinlich unter einer Decke steckt. Hab mich mit ihm verabredet. Für morgen nach Feierabend.«
»Mit Riedel?«
»Nein, mit dem Kellner. Ein Neger aus Deutsch-Ostafrika.«
»Ein Neger: Charly, Sie machen doch nichts Gefährliches? Soll ich Sie beschatten lassen von einem Kollegen?«
»Nicht nötig.« Charly lachte. »Wenn Sie mir unbedingt helfen wollen, könnten Sie mich beim Zwiebelschneiden ablösen.«
40
J uchhe, juhu, so sausen wir. Lauf nur, Julius, ich laufe dir nach. Ich hole dich schon ein! Nun habe ich dich, ich halte dich fest. Julius, ich bin rascher als du. Ich laufe, ich eile, ich sause, ich hole euch alle noch ein. A be bu, aus bist du. Eins, zwei, drei, du bist frei. Ele mele mu, aus bist du.
Rath rieb sich die Augen. Er starrte auf ein Bild, das zwei fröhliche Kinder mit Schulranzen zeigte, die Fangen spielten. Ein Schulbuch. Eindeutig. Eine Lesefibel. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Aber erst als er sich aufrichtete und merkte, dass er auf einem Sofa geschlafen hatte, wurde ihm klar, wo er übernachtet hatte.
Die Morgensonne fiel durch ein kleines Fenster auf einen Totenschädel, auf ein
Weitere Kostenlose Bücher