Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
einmal Aufregenderes geboten hatte. Aber für einen Mann in seinem Alter war eine Blondine mit schönen Beinen genau die Art von Aufregung, die er sich noch erlauben konnte in seinem ansonsten recht ereignisarmen Alltag. Die größte Anstrengung des Tages bestand darin, die Leiter emporzusteigen, die ihn ins Innere des Verkehrsturms brachte. Er schaute auf die Armbanduhr. Die Ablösung ließ auf sich warten. Scholz, dieser Frischling! Hatte der in der Toilettenkabine auf dem Potsdamer Bahnhof wieder die Zeit vergessen? Oder seinen Zug verpasst? Dem würde er was erzählen! War nicht das erste Mal! Sollte er länger als zehn Minuten warten müssen, würde er das als Überstunde aufschreiben, und das könnte dann bitte schön der Frischling dem Dienststellenleiter erklären!
In der Potsdamer Straße hatten die ersten Autofahrer zu hupen begonnen. Er warf einen letzten Blick auf die schönen Beine auf dem Fahrrad, bevor er den linken Hebel umlegte und den Verkehr auf der Stresemannstraße augenblicklich zum Stehen brachte und dann die Potse wieder auf Grün schaltete. Die Blondine in ihrem luftigen Sommerkleid trat kräftig in die Pedale, bis sie hinter den Torhäusern, die wie zwei kleine Tempel den Fahrdamm flankierten, im Verkehrsgewimmel verschwunden war.
Siegbert Wengler freute sich auf seinen Feierabend. Darauf, sich die Beine zu vertreten. Vielleicht würde er sich gegen Abend mal wieder eine Frau genehmigen, danach war ihm heute. Aber nicht bei Jette an der Potsdamer Straße, wo er sonst immer vorbeischaute; er durfte seinen Gewohnheiten nicht nachgeben, solange der Mörder da draußen unterwegs war. Er konnte sich des Öfteren eine von Jettes Frauen leisten, so gut sorgte sein Bruder für ihn. Gut essen, gut trinken und ab und zu eine Frau, das war sein Leben, und das war mehr, viel mehr, als es sich die meisten Zweiundfünfzigjährigen in dieser Stadt erlauben konnten, mehr, als die meisten in seinem Alter vom Leben erwarten konnten.
Bald würde er in den Ruhestand gehen. Vielleicht würde er zurückkehren, zurück in die Heimat. Nur mit den Frauen würde er dann wohl kürzertreten müssen, so ein Etablissement, wie Jette es unterhielt, das gab es in Treuburg nicht, wahrscheinlich in ganz Masuren nicht. Dafür würde er mindestens bis Königsberg fahren müssen oder sogar bis Danzig.
Ein Mann in blauer Uniform und weißen Ärmelstücken überquerte die Kreuzung. Endlich. Siegbert Wengler konnte das Gesicht unter dem Tschako nicht erkennen, aber das musste Scholz sein, der Ledertasche nach zu urteilen, in so einer Riesentasche transportierte nur der Frischling seine Stullen. Wobei man tatsächlich eine ganze Menge Stullen hier oben brauchte, um die Schicht durchzustehen. Und eine Thermoskanne voller Kaffee am besten auch. Der Dienst auf dem Verkehrsturm konnte ganz schön ermüdend sein.
Der Blaue war unter dem Turm verschwunden, auf der Leiter waren schon seine Schritte zu hören. Siegbert Wengler trug die Uhrzeit des Schichtwechsels auf die Minute genau in die Kladde ein, die an einer Schnur befestigt am Schaltpult hing, packte Brotdose und Thermoskanne ein und stellte sich breitbeinig auf, um Scholz, dieser Schnarchnase, den angemessenen Empfang zu bereiten. Zu seiner Enttäuschung war es allerdings ein anderes Gesicht, das in der Einstiegsluke erschien.
»Wer sind denn Sie?«, fragte Wengler, im selben Tonfall, in dem er eigentlich Scholz hatte zusammenfalten wollen.
Der Uniformierte stellte seine Tasche ab, richtete sich auf und salutierte.
»Melde gehorsamst: die Ablösung. Vertrete Unterwachtmeister Scholz!«
»Vertretung? Davon weiß ich nuscht.«
»Unterwachtmeister Scholz lässt sich entschuldigen. Ist plötzlich krank geworden.«
Siegbert Wengler schüttelte den Kopf. Ein Simulant war Scholz also auch noch. »Das entschuldigt Ihre Verspätung nicht, Unterwachtmeister!«
»Natürlich nicht, Hauptwachtmeister. Bitte um Verzeihung.«
»Kennense sich denn mit der Technik hier aus?«
»Selbstverständlich, Hauptwachtmeister.«
Wengler beugte sich über die Schichtwechselkladde, um den Namen von Scholz, den er bereits hingeschrieben hatte, auszustreichen und durch den des Ersatzmannes zu ersetzen.
»Name? Dienststelle?«, bellte er.
Hinter seinem Rücken blieb es stumm, und in diesem Moment wurde Siegbert Wengler bewusst, was ihn an dem neuen Kollegen so irritiert hatte. Die Aktentasche. Die Aktentasche, die der Mann eben auf den Boden gestellt hatte, war just die von Unterwachtmeister
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