Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
du. Sie hören diese Sprache nicht gern und erst recht nicht, dass sich jemand in dieser Sprache als Preuße bezeichnet. Du wirst ihnen nicht sagen, wie du abgestimmt hast, hernach glauben sie noch, sie hätten mit ihrer plumpen Propaganda, mit ihren Drohungen und ihrer Gewalt Erfolg gehabt. Sie halten dich für einen Polenfreund, so jedenfalls beschimpfen sie dich. Du weißt nicht, warum. Vielleicht weil du aus dem Ermland stammst und katholisch bist. Vielleicht weil du Marek, den Polen, einmal in Schutz genommen hast, als die von der Brennerei ihn im Suff beschimpft haben, bei Pritzkus drüben in der Kneipe. Vielleicht auch wegen deines Namens, dabei tragen doch so viele Menschen in dieser Gegend keinen deutschen Namen.
Jetzt kommen sie näher, und du weißt, dass es gar nicht nötig war, sie zu ärgern, sie haben es ohnehin auf dich abgesehen.
»Wer so spricht, braucht eine Abreibung«, sagt das Großmaul.
»Ist schon lange fällig«, sekundiert der Jüngste, ein Baum von Mann, ein Masure, der es eigentlich besser wissen müsste. Dass es falsch ist, sich mit diesen Schlägern einzulassen, die nationale Töne nur deshalb spucken, damit sie einen Vorwand haben, anderen Menschen das Nasenbein zu brechen. Doch vielleicht ist genau das die Tragik der Masuren: dass sie deutscher sein wollen als die Deutschen.
Der Kleinwüchsige sagt nichts, doch du siehst die Rauflust in seinen Augen.
Dir bleibt nichts anderes übrig, du krempelst die Ärmel hoch und brichst eine Latte aus dem Zaun unten am Legaufer, bereit, dich gegen die drei Schwachköpfe zur Wehr zu setzen.
Langsam kommen sie näher, du kannst nicht mehr ausweichen, hinter dir ist nur noch der Fluss.
Du verpasst dem Masurenriesen einen Schlag mit der Zaunlatte, dass er zu Boden geht, denn er ist der Stärkste von den dreien, doch der zähe Kleine hat sich schon auf deine Beine gestürzt und klammert und will dich zu Fall bringen, und du weißt, wenn du erst mal am Boden liegst, hast du verloren.
Der Kleine ist nicht loszubekommen, auch mit einem Schlag der Zaunlatte nicht, und obwohl du dich dagegen wehrst, verlierst du schließlich doch das Gleichgewicht und fällst auf den staubigen Boden. Der Masure sitzt immer noch mit blutender Stirn im Gras, doch ihr Anführer ist herangetreten und schaut auf dich herab, grenzenlose Verachtung im Blick. Und dann tritt er dir in die Magengrube, und die Luft bleibt dir weg. Und immer noch hängt der Kleine an deinen Beinen, und du kannst nicht aufstehen, und der Anführer holt ein zweites Mal aus – da zerreißt ein schriller Pfiff die Sommerluft, die Trillerpfeife der Polizei.
48
W enn er hier oben stand, hörte alles auf sein Kommando. Er liebte dieses Gefühl, und deshalb liebte er auch seinen Beruf, immer noch, obwohl er einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Aber wer hatte das nicht in Deutschland?
Es gab Zeiten, da hatte ein ganzes Dorf auf ihn gehört, später sogar eine kleine Stadt, und nun war es nur noch eine Kreuzung. Allerdings die verkehrsreichste Europas – vorausgesetzt, es stimmte, was sie den Touristen im Auskunftskiosk Unter den Linden erzählten.
Von allen Seiten rückten die Elektrischen heran, die Busse brummten ungeduldig, dazwischen huschten die Autos und die Kraftdroschken durch die Lücken, die sie fanden, und die Fahrräder glitzerten in all dem Gewimmel wie verirrte Mücken in der Sonne.
Er legte den Hebel um, und in der Potsdamer Straße, aus der sich der Verkehr eben noch schob, blieb alles stehen. Ganz vorne in der Reihe eine Kraftdroschke, dahinter der Fünfer-Bus und neben der Droschke eine junge Blondine auf einem Fahrrad, die ungewollt sehr viel Bein zeigte, im Bemühen, an der roten Ampel das Gleichgewicht zu halten.
Und es lag allein an ihm, wann sie würde weiterfahren dürfen. Hier oben im Verkehrsturm fühlte er sich wie der Herrscher der Welt.
Natürlich gab es Vorschriften, wie lange ungefähr eine Fahrtrichtung zu sperren war, bevor man sie wieder freigab, um einen fließenden Verkehr zu gewährleisten, aber diese Vorschriften waren auslegbar, und außerdem, wer zum Teufel sollte ihn kontrollieren? Den Dienstwagen des Polizeipräsidenten kannte er und auch den des Vize, ebenso das Mordauto. Wenn er die in der Reihe stehen sah oder sonst ein Kollege sich blicken ließ, schaltete er sofort auf Grün, natürlich. Nicht aber bei einer hübschen Blondine im Sommerkleid, die mehr Bein zeigte, als sie wollte.
Ja, Siegbert Wengler liebte seinen Beruf. Immer noch, auch wenn der
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