Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
schneiden, nein: Sie hatten sie zum Spülen eingeteilt, weil irgendeine Spülhilfe kurzfristig ausgefallen und so schnell kein Ersatz zu finden war. Charly wusste nicht, warum die Wahl auf sie gefallen war; vielleicht stellte sie sich ja beim Zwiebelschneiden und all den anderen Arbeiten zu dämlich an. Ob sie beim Spülen geschickter war, konnte sie nicht sagen, aber immerhin war ihr bislang noch nichts zu Boden gefallen.
Sie hatte Manfred Unger genau beobachtet, doch hatte sie ihm nichts anmerken können. Weder dass er eingeschüchtert worden war von ein paar vierschrötigen Kerlen, noch dass er sich in einem zwielichtigen Lokal herumgetrieben hatte, und schon gar nicht, ob er bemerkt hatte, dass seine neue Küchen- und Bürohilfe im selben Lokal gewesen war. Er hatte Charly behandelt wie immer: vergleichsweise freundlich. Was bei ihm bedeutete, dass er an ihr weniger herummeckerte als am Rest der Mannschaft. Er hatte noch nicht einen einzigen Ton mit ihr gesprochen heute, obwohl sie das unangenehme Gefühl hatte, dass er sie durch das große Glasfenster dauernd ins Visier nahm: Immer, wenn sie sich umdrehte, schaute er gerade zu ihr hinüber.
Spülen mochte weniger tränentreibend sein als Zwiebeln schneiden, ein Aufstieg in der Küchenhierarchie war es nicht. Und weniger hektisch ebenfalls nicht. Obwohl hier eine Spülmaschine stand, hatte Charly alle Hände voll zu tun. Die Maschine wollte mit schmutzigem Geschirr gefüttert werden wie ein hungriger Wolf. Und dann musste man noch aufpassen, dass alles, was aus der Maschine kam, auch wirklich sauber war. Was es natürlich nie war, sodass man mindestens die Hälfte des Krempels dann doch von Hand nachspülen durfte. Ihre Schürze war jedenfalls schon total durchnässt, das Wasser an manchen Stellen bis auf die Haut gedrungen, wo die Kleidung jetzt kalt am Körper klebte.
Sie hatte Greta versprochen, noch zum Wannsee rauszufahren, ohne Männer, ein reiner Frauennachmittag. Nach Gereons Anruf gestern, der seltsam geschäftsmäßig verlaufen war, eher wie der Anruf eines Vorgesetzten als der eines Verlobten, konnte sie das gebrauchen: in der Nachmittagssonne liegen und in einem Krimi schmökern und ab und zu schwimmen gehen, wenn es einem zu heiß wurde. Und natürlich aufdringliche Männer abwimmeln, eine Disziplin, in der es Greta zu wahrer Meisterschaft gebracht hatte. Je gewaltiger sich die Gockel aufplusterten, desto besser kam Charlys Freundin in Fahrt.
Sie fühlte sich wieder beobachtet und schielte nach links, doch diesmal erwischte sie Unger nicht dabei, wie er sie anglotzte, das Büro war leer. Umso mehr erschrak sie, als sie dennoch seine Stimme hörte, ganz nah, aber von der anderen Seite, da, wo das Fließband das schmutzige Geschirr anlieferte, ein Tablett nach dem anderen.
»Fräulein Ritter, lassen Sie mal die Spülmaschine. Da haben Sie jetzt lang genug gestanden.«
Charly drehte ihren Kopf und sah den Chefkoch und einen spindeldürren Jungen, der die Spülschürze bereits umgebunden hatte. Unger zeigte auf den Spüler. »Franzeken hier löst Sie ab.«
Sie versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen, und nickte. Der Junge machte sich gleich an die Arbeit, er schien die Maschine nicht zum ersten Mal zu bedienen. Unger stand da und hatte etwas in seinem Gesicht, das an ein Lächeln erinnerte, ein Ausdruck, den sie noch nie in diesem Gesicht gesehen hatte.
Unger räusperte sich. »Fräulein Ritter … Holen Sie doch bitte noch eben fünf Kisten Tomaten aus dem Gemüselager; in der Salatküche brauchen sie dringend Nachschub. Und dann können Sie meinetwegen Feierabend machen.«
Feierabend. Wie schön dieses Wort klang. Charly merkte, dass sie schon wie eine Küchenhilfe dachte: Der Feierabend war das Wichtigste. Dass sie heute noch nichts, aber auch gar nichts für ihren eigentlichen Auftrag erledigt hatte, störte sie kaum noch: Hauptsache, raus!
Sie löste die Bänder auf ihrem Rücken, nahm die vollkommen durchnässte Spülschürze ab und warf sie in den großen Wäschekorb direkt neben der Stechuhr. Sie überlegte kurz, ob sie für die Tomatenkisten noch eine neue Schürze anziehen sollte, ließ es dann aber bleiben. Die Sachen, die sie trug, gehörten ohnehin in die Wäsche.
Den Weg zum Lager kannte sie bereits, nur die Tomaten fand sie nicht gleich. Das Gemüselager war relativ groß und ebenso unübersichtlich: mehrere Regalreihen voller Gemüse, zumeist frisches, aber auch Konserven, direkt neben dem Eingang vier
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