Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
besorgt, oder? Es steht nicht fest, woher dieser schwarzgebrannte Fusel stammte und wer ihn als Luisenbrand verkauft hat.«
»Für das Gericht nicht, aber es kommt auch nicht darauf an, was das Gericht denkt, es kommt darauf an, was Artur Radlewski denkt. Herr Wengler, die Berliner Kollegen befürchten, dass Radlewskis Rachefeldzug, wenn es denn einer sein sollte, womöglich noch nicht zu Ende ist. Und ich befürchte das auch.« Rath schaute in Wenglers Augen. »Ich möchte Sie bitten, sich die Mitarbeiterliste in Ihrem Betrieb einmal anzusehen. Vielleicht fällt Ihnen zu dem ein oder anderen Namen ja noch etwas ein.«
Mit einem Mal war Gustav Wengler ernst geworden. Er blieb stehen. »Haben Sie vielleicht doch eine Zigarette für mich?«
Rath klappte das Etui auf, und Wengler bediente sich. Er inhalierte gierig, als die Flamme des Feuerzeuges den Tabak berührte. Der Direktor rauchte eine Weile und dachte nach.
»Herr Kommissar«, sagte er schließlich, »ich weiß nicht, ob das wichtig ist, weil strafrechtlich war das damals nicht relevant, und es stand auch nichts in den Zeitungen, aber … mein Bruder.«
»Was ist mit Ihrem Bruder?«
»Siegbert war Polizist hier am Ort. Er … nun, wie soll ich das sagen?« Wengler schüttelte den Kopf, die Erinnerung schien ihm nicht zu gefallen. »Man hat ihn damals verdächtigt, mit den Schwarzbrennern unter einer Decke zu stecken, sie zumindest vor einer Aushebung gewarnt zu haben.«
»Wie?«
»Da ist natürlich nichts dran.« Wengler schickte Rath einen seiner harten Blicke. »Drüben im Wald bei Markowsken hat man ein Schwarzbrennernest hochgenommen, und als die Polizei kam, war kein Mensch mehr da, den man hätte festnehmen können.«
»Das hat man Ihrem Bruder angelastet?«
»Natürlich war keiner mehr da.« Wengler zuckte die Achseln. »Hätte mich gewundert, wenn man bei so einer Aktion jemanden angetroffen hätte. Polizeiuniformen im Wald, das ist ungefähr so auffällig wie …«
»… ein Indianer in der Großstadt.«
»So ähnlich.« Wengler schaffte es zu lächeln. »Jedenfalls – Siegbert hat es vorgezogen, sich versetzen zu lassen. Gegen Gerüchte ist nicht leicht anzukommen, manchmal macht man da besser einen Neuanfang.«
»Wem sagen Sie das?« Rath nickte. »Und wo hat Ihr Bruder diesen Neuanfang gemacht, Herr Wengler? Womöglich ist er in Gefahr! Wir müssen ihn warnen.«
»Es ist eine Stadt, die Sie kennen, Herr Kommissar.« Der Schnapsfabrikant lächelte. »Mein Bruder arbeitet seit fast acht Jahren in Berlin. Als Verkehrspolizist.«
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I m Hohlraum unter der Bohle zwischen Schlafraum und Stube, dort hast du all die Dinge versteckt, die du brauchst, für den Fall, dass die Polizei dir vielleicht noch einen Besuch abstatten sollte. Jeden Tag greifst du dort hinein, holst das Curareröhrchen hervor, die Veronallösung und die Spritzen, jeden Tag gehst du zum Bahnhof und wartest auf deine Chance. Darauf, dass du mit ihm allein bist. Ein kleiner Moment würde dir schon reichen.
Du betrachtest das rote Tuch, das du gerade faltest und zu den anderen Sachen legst, und mit dem Rot kommt die Erinnerung.
Ein rotes Tuch am Brückengeländer vor der Stadtmühle, es fällt kaum auf zwischen all den Farben, mit denen die Stadt sich heute geschmückt hat. An allen Zugängen zum Marktplatz haben sie Triumphbögen aus Tannengrün errichtet, schwarz und weiß und rot umwickelt. Dieses Land bleibt deutsch! , liest du. Auf dem nächsten steht ein ähnlicher Spruch: Das Land ist unser, unser soll es bleiben! Polnische Wörter sind nirgends zu entdecken. Du bist vor wenigen Minuten erst aus dem Abstimmungslokal gekommen und gehst die Deutsche Straße hinunter, als du das rote Tuch an der Brücke siehst, wie es leise im Sommerwind flattert. Dein Herz schlägt schneller, du musst zum Schuppen, dein Fahrrad holen. Wenn du dich beeilst und kräftig in die Pedale trittst, kannst du es in einer halben Stunde schaffen, hinaus zum kleinen See. Dort, wo ihr euch immer trefft.
Doch du kommst nicht zum See, du erreichst nicht einmal den Schuppen. Wie aus dem Boden gewachsen stehen mit einem Mal die drei von der Brennerei auf der Straße und bauen sich vor dir auf. Sie tragen die Armbinden des Heimatdienstes und machen den Eindruck, als hätten sie schon jetzt, so früh am Tag, viel zu viel getrunken.
»Wohin so eilig, Polackensau?«
Ihr Anführer fragt das, ein Mann, der Freude daran hat, andere Menschen zu schikanieren und zu quälen.
»Jestem Prußakiem«, sagst
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