Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»Erst machst du einen wild, da draußen an der Spülmaschine, und dann so was!«
»Ich habe Sie nicht wild gemacht, ich habe meine Arbeit gemacht, das ist alles! Ich habe Sie nicht gezwungen, mir dabei auf den Hintern zu gucken!«
»Du musst nicht glauben, dass du unersetzlich bist! Es gibt genug Leute draußen auf der Straße, die alles tun würden für eine Stelle im Haus Vaterland !«
»Ich tue eben nicht alles, Herr Unger!«
»Ach nein?« Unger hatte eine Miene aufgesetzt, als würde er jeden Moment vor ihr ausspucken wollen. »Aber einen Neger lässt du an dich ran! Verdammtes Flittchen!«
»Wie bitte?«
»Du musst nicht glauben, dass das niemand hier mitbekommen hat! Ein Negerliebchen!«
Einen Moment befürchtete Charly, der hagere Chefkoch würde nun wirklich vor ihr ausspucken, mit derart abgrundtiefer Verachtung hatte er das letzte Wort ausgesprochen, doch er drehte nur wortlos um und machte sich aus dem Staub. Sie hörte, wie die Tür wieder geöffnet wurde und dann ins Schloss fiel.
Charly merkte, wie ihre Hände zitterten, und sie wusste nicht, ob das allein die Wut war. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann hockte sie sich hin und sammelte die weggekullerten Tomaten wieder ein. Eine davon hatte Unger zu Matsche getreten, die warf sie in den großen Mülleimer an der Tür. Die Kisten waren gestapelt, doch sie brauchte noch eine Weile, ehe sie so weit war, in die Küche zurückkehren zu können. Tapfer schob sie die Sackkarre vor sich her. Sie hatte die Fäuste innerlich hochgenommen, doch von Unger war nichts zu sehen, weder in der Küche noch hinter der Glaswand in seinem Büro. War er schon gegangen? War es ihm peinlich, ihr noch einmal zu begegnen? Charly wusste es nicht. Sie brachte die Tomaten in die Salatküche und die Sackkarre zurück ins Lager. Dann ging sie in den Waschraum und wusch sich lange die Hände. Es war immer noch früh, doch das war ihr egal, sie verließ Haus Vaterland auf schnellstem Wege, hoffte nur, Unger nicht mehr zu begegnen, und der tat ihr den Gefallen.
Sie war froh, als sie unten aus der Tür trat und endlich draußen war. Sie atmete tief ein, als habe sie da drinnen die ganze Zeit die Luft anhalten müssen. Nun schnell nach Hause in die Spenerstraße und eine Dusche nehmen, sich mit dem Wasser den ganzen Dreck des Tages vom Körper spülen.
Die U-Bahn-Treppe lag auf der anderen Seite des Gebäudes. Der Buick stand in Moabit, der passte leider nicht zu ihrer Rolle als Küchenhilfe. Viel hatte sie noch nicht davon gehabt, dass Gereon ihr den Wagen dagelassen hatte, umso mehr freute sie sich auf die Fahrt zum Wannsee, vielleicht würde sie sich die Avus gönnen und ihre Wut auf die Männerwelt am Gaspedal auslassen.
Auf der Stresemannstraße staute sich der Verkehr. Bis zum Anhalter Bahnhof, wie es aussah. Weniger geduldige Autofahrer bogen schon ab in die Nebenstraßen oder wendeten, andere suchten ihr Heil im Betätigen der Hupe. Einzig die Radfahrer blieben ruhig und schlängelten sich an den Autos vorbei bis an die Kreuzung, doch dann war auch für sie Schluss, denn die Ampel am Potsdamer Platz stand auf Rot. Und blieb auf Rot.
Charly wunderte sich. Schlief der Kollege da oben im Verkehrsturm?
Irgend so etwas musste es sein, jedenfalls konnte sie jetzt einen Verkehrspolizisten entdecken, der von Josty kommend quer über die Kreuzung lief und in ziemlicher Hast die Leiter erklomm, die zum Turm hinaufführte. Kurz darauf sprang die Ampel für die Stresemannstraße endlich wieder auf Grün. Die Blechlawine setzte sich langsam in Bewegung, und das Hupkonzert verstummte.
Charly wollte gerade in die U-Bahn hinuntergehen, da bemerkte sie den dunkelroten Horch, der direkt im Schatten des Verkehrsturms parkte, sozusagen mitten auf der Kreuzung, mit zwei Rädern in der Grünanlage. Und sah den Weißkittel, der aus dem Wagen stieg. Sie fragte sich gerade, was Doktor Karthaus am Potsdamer Platz zu tun haben mochte, da erblickte sie das Mordauto, das von der Leipziger Straße angerast kam und mit quietschenden Reifen bremste. Der schwere schwarze Maybach parkte gleich hinter dem Horch, ebenso wenig Rücksicht auf die Grünanlagen nehmend, und in diesem Moment wusste Charly, dass sie heute nicht mehr mit Greta an den Wannsee fahren würde.
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W ilhelm Böhm hasste es, zu spät zu kommen. So war es gewissermaßen sein persönlicher Fluch, dass er einen Beruf ergriffen hatte, bei dem er zwangsläufig immer und immer wieder zu spät kam, immer erst dann, wenn
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