Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
er keines Blickes mehr.
Es gab also einen Toten im Verkehrsturm. Das hatte Charly sich schon selbst zusammengereimt, als sie Böhm aus dem Mordauto hatte steigen sehen. Doch Steinke verriet ihr nicht mehr, der Kommissaranwärter wandte sich demonstrativ von ihr ab und sprach so leise ins Telefon, als arbeite er beim Geheimdienst und Charly sei eine Art Mata Hari.
Sie zuckte die Achseln und suchte sich eine freie Schreibmaschine. Würde sie die Zeit eben nutzen und den Bericht über ihren Einsatz im Haus Vaterland schon einmal beginnen. Dass sie den am liebsten möglichst bald abbrechen würde, schrieb sie nicht hinein, und ihre heutige Begegnung mit Unger im Gemüselager schilderte sie harmloser, als sie gewesen war. Das ging die Kollegen nichts an, das war allein ihre Sache!
Sie konnte es kaum erwarten, Unger, dieses Schwein, hinter Gitter zu bringen, ihn und seinen Kompagnon! Mochten die Kerle im Knast verrotten!
Als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gedacht hatte, erschrak sie über sich selbst. Über ihre Rachsucht. So etwas war in höchstem Maße unprofessionell, eine Polizistin sollte sich von solchen Gefühlen niemals leiten lassen.
Aber daran denken konnte man doch wohl!
Sie hatte den Bericht fast fertig, da flog die Tür auf, und Böhm platzte in den Raum wie eine Bombe, eine brummige Miene aufgesetzt wie immer. Als der Oberkommissar seine ehemalige Stenotypistin erkannte, hellte sich sein Gesicht etwas auf.
»Charly, was machen Sie denn hier?«
»’n Abend, Herr Oberkommissar. Ich dachte, ich schaue mal vorbei, was so los ist. Nachdem ich das Mordauto unter dem Verkehrsturm gesehen habe.«
Tatsächlich hatte Charly mit dem Gedanken gespielt, einfach hinüberzugehen, als sie Böhm aus dem Wagen hatte steigen sehen, dann war sie doch erst nach Moabit gefahren, um Greta abzusagen und zu duschen; sie hatte das Gefühl, überall schmutzig zu sein, wo Unger sie angefasst hatte. In frischen Kleidern war sie schließlich zum Alex gefahren, wo sie Gereons Buick unauffällig im Schatten der Stadtbahnbögen geparkt hatte, weitab von den Laufwegen der Kollegen, die seinen Wagen kannten.
Böhm erzählte ihr, was geschehen war, und Steinke, der immer noch oder schon wieder telefonierte und irgendetwas aufschrieb, beobachtete neidvoll, wie der Oberkommissar eine Kommissaranwärterin ins Vertrauen zog.
»Sind Sie sicher, dass es unser Mann ist?«, fragte Charly.
Böhm nickte. »Derselbe Tathergang. Paralysieren und ertränken.«
»Hat die Gerichtsmedizin das schon untersucht?«
»Natürlich nicht. Aber der Augenschein trügt in diesem Falle nicht. Weder mich noch Doktor Karthaus. Sogar eins von diesen roten Tüchern hat er wieder am Tatort zurückgelassen. Wenn wir es diesmal auch nicht gleich gefunden haben.«
»Aber ein Polizist! Was hat der denn mit den anderen Opfern zu tun?«
»Ich weiß es nicht.« Böhm zuckte die Achseln. »Womöglich hat er vor einer Woche etwas beobachtet. Als Lamkau im Haus Vaterland gestorben ist. Habe bereits die Dienstpläne bei der Verkehrspolizei anfordern lassen, vielleicht passt da was zusammen.«
Charly nickte. Doch zufrieden war sie mit dieser Antwort nicht. Und da war noch etwas anderes, das nicht passte.
»Der Rhythmus stimmt nicht«, sagte sie, und Böhm runzelte die Stirn.
»Wie?«
»Der Rhythmus. Bislang hat unser Mörder im Abstand von sechs Wochen ungefähr gemordet. Und jetzt ist seit dem letzten Toten nur wenig mehr als eine Woche vergangen.«
»Das spräche für die Annahme, dass womöglich ein Zeuge beseitigt werden sollte.« Böhm rieb sich das Kinn. »Oder es handelt sich um einen Nachahmungstäter. Hat ja alles in den Zeitungen gestanden, sogar das mit dem roten Tuch.«
Charly schüttelte den Kopf. Irgendetwas in ihr sperrte sich gegen diese Idee. »Ich glaube nicht, dass wir es mit einem typischen Serienmörder zu tun haben, mit einem psychisch Kranken oder so.«
»Sie können ruhig sagen: mit einem Irren.«
»Wenn Sie so wollen. Aber unser Mörder ist kein Irrer, das ist nur jemand, der seine Morde sorgfältig vorbereitet. So sorgfältig, dass wir in einem Fall ja nicht einmal von Mord ausgegangen sind.«
»Und?«
»Die ersten drei Opfer lebten jeweils in einer anderen Stadt, deswegen hat er sechs Wochen gebraucht bis zum nächsten. Aber jetzt … Haus Vaterland ist nur einen Katzensprung entfernt vom Potsdamer Platz und dem Verkehrsturm. Lamkau und der tote Polizist lebten in derselben Stadt, deswegen hat die Vorbereitung diesmal nicht so
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