Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
niemanden mehr hineinkommen sehen.
Da stöhnte es wieder. Waren da zwei Hundertfünfundsiebziger zugange? Ihn ekelte die Vorstellung. Vielleicht sollte er die Polizei holen, dann konnten sie die Brüder in flagranti erwischen, diese schwulen Schweine, und sie von der Sittenpolizei wegsperren lassen.
Jetzt hörte er ein Poltern in der Kabine und stutzte. Er beugte sich nach unten. Da drinnen schien ein Mann auf dem Boden zu knien. Sah aus, als sei der Kerl allein. Na, wenigstens das!
»Hallo?«, rief er zaghaft. »Brauchen Sie Hilfe dadrinnen?«
Die Antwort war wiederum ein leises Stöhnen. Der Mann in der Kabine versuchte, sich aufzurappeln, doch wieder sackten ihm die Beine weg.
»Hallo? Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut?«
Er stellte den Putzeimer ab und den Schrubber und rüttelte an der Tür. Verriegelt. Natürlich.
»Öffnen Sie bitte die Tür! Sonst kann ich Ihnen nicht helfen!«
Er merkte, wie Panik in ihm aufstieg. Der Mann konnte einen Herzanfall haben oder sonst etwas; wie sollte er ihm helfen, wenn der die Tür nicht öffnete?
Er hörte, dass der Mann versuchte, den Riegel zurückzuschieben, doch selbst dafür schien die Kraft nicht zu reichen, nur ein hilfloses Ruckeln kam dabei heraus, der Schieber hakte irgendwo. Doch dann rutschte das Metall zurück, mit einem lauten, schabenden Geräusch. Und gleich darauf schwang die Tür auf, und der Mann, der dahinter gekniet hatte, fiel nach vorne und schlug mit dem Oberkörper auf die Bodenfliesen.
Er trug nur Unterwäsche und Socken.
»Was ist mit Ihnen? Soll ich die Polizei holen?«
»Bollissei«, lallte der Mann. »Ich Bollissei!«
»Was ist passiert? Sind Sie verletzt?«
Der Mann schaffte es jetzt, den Oberkörper abzustützen und sich ein wenig aufzurichten. Er wirkte ziemlich benommen. Aber weniger, als habe er zu viel getrunken, eher als lähme ihn irgendetwas, seine Arm- und Beinmuskeln, aber auch seine Zunge. Er schüttelte den Kopf. »Nich verledssd.« Und mit diesen Worten knickten ihm die Arme wieder weg.
Da lag etwas, auf dem Boden der Kabine, aus der der Mann gekommen war, direkt neben der Kloschüssel. Er ging hinüber und hob es mit spitzen Fingern auf. Ein Dienstausweis der Berliner Polizei. Auf dem Foto war der Mann abgebildet, der jetzt wieder in die Bewusstlosigkeit gesunken war. Allerdings lächelte er auf dem Foto und trug einen Tschako. Erwin Scholz , stand unter dem Lächeln, Polizeiunterwachtmeister, und schräg darüber prangte ein Stempel mit dem preußischen Adler.
53
F rüher hatte man so etwas Kaiserwetter genannt. Der Himmel leuchtete in einem schon fast unanständigen Blau, es wehte ein leiser, angenehmer Wind, und die Luft vibrierte von jener Spannung, wie sie besonderen Tagen zu eigen ist.
Dass es sich bei diesem Tag um einen besonderen handelte, war allerdings auch nicht zu übersehen. Die Stadt befand sich in Festtagsstimmung und hatte sich entsprechend herausgeputzt, an den Fassaden rund um den Marktplatz zitterten Fähnchen, Wimpel und Girlanden im Wind, das Kopfsteinpflaster war so sauber wie nach einem frischen Regenguss, und an den Fahnenmasten wehte es schwarz und weiß und rot und bauschte sich auf wie Wäsche an der Leine.
Blasmusik hatte ihn geweckt, und Rath war aufgestanden, viel später, als er eigentlich wollte, er hatte gestern Abend den Wecker nicht gestellt. Er stand im Bademantel am Fenster und schaute auf den größten Marktplatz Deutschlands. Es war ähnlich viel los wie am Markttag; die Treuburger, überwiegend im Sonntagsstaat, säumten ihren Marktplatz und lauschten der Kapelle, die oben bei der Post stehen musste, aber so weit konnte Rath nicht sehen. Alle hatten, bewusst oder unbewusst, Haltung angenommen und versuchten, würdevoll zu gucken. Die Musik spielte vaterländisches Liedgut und preußische Märsche, von denen man den ein oder anderen sogar erkennen konnte. Ein Trupp Jünglinge in braunen Hemden stand besonders stramm, die SA nutzte den Tag, um sich den Bürgern von ihrer besten Seite zu zeigen, in frisch gebügelten Uniformen. Sogar die Hakenkreuzbinden leuchteten, als wären sie gerade eben von der Wäscheleine geholt worden.
Rath drückte die Zigarette aus, die er sich zum Wachwerden angezündet hatte, und ging ins Bad. Sein Kater hielt sich in Grenzen, obwohl er bei all den vergeblichen Versuchen, Charly ans Telefon zu bekommen, gestern Abend wieder zu viel getrunken hatte. Nicht im Salzburger Hof , in dem er sich immerzu beobachtet fühlte, sondern im Kronprinzen,
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