Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Kronprinzen , die Berliner mit den verzogenen Kindern. Die Mutter warf Rath gerade einen missbilligenden Blick zu. Sein überdurchschnittlicher Cognacverzehr gestern Abend schien bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.
Die Musik machte endlich eine Pause, und Rath wollte sich Kowalski zuwenden, da hörte er eine helle Stimme hinter sich.
»Herr Kommissar?«
Er drehte sich um und erkannte die Bedienung vom Salzburger Hof .
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Hella und deutete einen Knicks an, »aber ich habe Sie heute Morgen noch nicht gesehen im Hotel, und da war doch ein Anruf für Sie. Aus Berlin.«
»Aus Berlin? Wer? Eine Dame?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Oberkommissar Blum oder so! Bittet um Rückruf.« Sie musste ihre Antwort brüllen, denn die Musik hatte wieder eingesetzt.
»War es vielleicht ein Oberkommissar Böhm?«
Sie zuckte die Achseln.
»Wann hat er angerufen?«
»Wie?«
»Wann?«
Sie beugte sich zu ihm und sprach laut in sein Ohr. »Gestern Abend. Ich habe eine Notiz in Ihr Fach gelegt … Aber dann habe ich Sie heute Morgen nicht gesehen.«
Rath nickte.
»Ich dachte, ich sag Ihnen das jetzt; vielleicht ist es wichtig …«
»Danke, Hella«, sagte er. Und als sie noch einen Moment stehen blieb, drückte er ihr ein Markstück in die Hand. Sie knickste noch einmal, schenkte ihm sogar ein Lächeln und kehrte zurück an ihren Tisch, zu ihrer Familie. Rath schaute ihr hinterher, bis sie Platz genommen hatte. Wie sie ihren Rock hob, bevor sie sich hinsetzte …
Böhm hatte also angerufen. Na, der würde sich noch eine Weile gedulden müssen. Rath widmete sich seinem Bier; schmeckte gar nicht mal schlecht, was die hier brauten.
Als die Musik wieder eine Pause machte, beugte er sich zu Kowalski hinüber. »Wie weit sind Sie eigentlich mit der Namensliste?«, fragte er den Kriminalassistenten, »schon etwas herausgefunden?«
»Hatte erst einmal genug zu tun mit der Lektüre, die Sie mir gegeben haben.«
»Und?«
»Nuscht. In der Zeitung kein Hinweis auf irgendetwas, das Radlewskis Aufmerksamkeit geweckt haben könnte. Und die Bücher, die Sie mir gegeben haben, drehen sich alle nur um nordamerikanische Indianer. Das Curare-Gift kommt aber aus Südamerika.«
»Das heißt?«
»Das heißt: Fehlanzeige. Keine Anleitung für Giftmischer.«
»Dann müssen wir vielleicht noch einmal in die Bibliothek. Vielleicht hat die Bibliothekarin ein paar Bücher übersehen.«
»Die Kreisbücherei hat heute zu.« Kowalski zeigte auf einen Tisch im Schatten des Festzelts, dort saß Maria Cofalka, die Herrin der Bücher, in Gesellschaft einiger Männer und Frauen, unter denen Rath auch Karl Rammoser ausmachte. Fast alle am Tisch sahen aus wie Lehrer, auch die, die keine dünnen Drahtbrillen trugen. Als Rammoser herüberschaute, hob Rath sein Glas und prostete dem Dorflehrer zu. Die Kapelle hatte sich jetzt offenbar auf eine längere Pause eingerichtet, die Musiker bekamen jedenfalls wieder Bier hingestellt.
»Und die Namensliste?«
»Geben Sie mir ein paar Stunden.« Der Kriminalassistent schaute über das Festgelände und senkte seine Stimme. »Hier habe ich alle Leute beisammen, mit denen ich reden kann. Und je betrunkener die werden, desto mehr erzählen sie.«
»Dann legen Sie los! Heute Mittag brauche ich Namen, die ich nach Berlin melden kann. Oberkommissar Böhm hat schon nachgefragt.«
Kowalski nickte und deutete nach vorne. Landrat Wachsmann war vom Tisch aufgestanden, knöpfte sich das Jackett zu, stieg die Stufen zum Denkmal empor und trat ans Mikrofon hinter dem Rednerpult. Der offizielle Festakt, mit dem Treuburg dem Abstimmungsergebnis von 1920 huldigte, hatte also begonnen, und das Getuschel an den Biertischen erstarb, kaum tönte das erste Kratzen durch die Lautsprecher. Der Landrat ließ es bei einem Grußwort bewenden; im Wesentlichen war er damit beschäftigt, die Namen sämtlicher anwesender Honoratioren aufzuzählen und dabei möglichst niemanden zu vergessen. Rath freute sich zu hören, dass Doktor Wachsmann dies auch im Namen des Bürgermeisters tat und er das Ganze nicht noch einmal über sich ergehen lassen musste.
»Ausdrücklich begrüße ich auch«, sagte der Landrat, nachdem er die Honoratiorenliste abgearbeitet hatte, »die Gäste aus dem Westen, die hier und heute mit uns zusammen feiern und die uns damit zeigen, dass wir trotz des Korridors, der unser Vaterland zerschneidet, immer noch zum Reich gehören, zum Deutschen Reich, zu dem wir uns vor genau
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