Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
vorne, einige Frauen betupften ihre Augen mit dem Taschentuch. Selbst am Lehrertisch schaute man andächtig drein, sogar Rammoser, auch wenn die skeptischen Falten um dessen Mund darauf hindeuteten, dass er nicht allem zustimmte, was Wengler da von sich gab. Eindeutiger war das Gesicht der Bibliothekarin: Maria Cofalka bedachte Gustav Wengler mit einem Blick, aus dem regelrechter Widerwille, wenn nicht gar Hass und Abscheu sprachen. Rath konnte sie verstehen. Die Theatralik dieses Auftritts war auch ihm zuwider. Er sah Wenglers Gesicht und war sich nicht sicher, wie echt dessen Gefühle sein mochten, ob sie nicht nur Mittel zum Zweck waren, die alljährliche Festrede eindrucksvoller zu gestalten.
»Meine Damen und Herren«, sagte der Direktor nun, »ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben und der verstorbenen Anna von Mathée in einer Schweigeminute zu gedenken.«
Es gab einen kurzen polternden Lärm, als die Menschen aufstanden, zunächst war noch vereinzeltes Räuspern oder Husten oder Zischen zu hören, aber dann war es still, wirklich still wie in einer Kirche, nur noch das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln zu hören. Rath sah in ernste Gesichter. Der Tod der Anna von Mathée schien alle hier immer noch anzurühren, und das zwölf Jahren nach ihrem Todestag.
»Ich glaube, die meisten hier kennen Annas Geschichte«, fuhr Wengler fort, »die meisten hier wissen, wie sie getötet wurde. Dass sie noch am Tage der Abstimmung getötet wurde von einem jener Elemente, die sich in unsere Mitte gedrängt hatten, um uns unsere Heimat zu rauben. Die meisten hier wissen, dass Anna meine Verlobte war und ihr Tod mir allen Grund gegeben hätte, den Mörder zu hassen. Doch ich will heute nicht von Hass reden, sondern von Liebe. Und nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft.«
Die Liebe, von der Wengler zu reden angekündigt hatte, war allein die zum Vaterland, und die Zukunft, die er heraufbeschwor, war eine, die vor allem den Braunhemden im Publikum gefallen dürfte. Und entgegen seiner Ankündigung ließ der Vorsitzende des Heimatdienstes die Vergangenheit nicht ruhen, sprach von »nicht verheilten Wunden«, seine Umschreibung für den polnischen Korridor, »jenen Keil, den man zwischen Preußens Seele und Preußens Leib getrieben hat«. Wieder machte er die Pause an genau der richtigen Stelle. »Man hat uns getrennt vom Vaterland, aber man wird uns niemals unsere deutschen Herzen aus der Brust reißen können! Eines Tages werden wir wieder mit dem Reich verbunden, wird die Schmach von Versailles getilgt sein.«
Rath kannte solche Reden über den Korridor auch aus Berlin; wenn ein Redner dieses Register zog, konnte er immer auf ungeteilte Zustimmung des Publikums hoffen, ganz gleich ob bürgerlich oder proletarisch, ob links oder rechts oder liberal, aber solch einen brachialen Jubel, wie er jetzt, nachdem Wengler geendet hatte, unter den Treuburgern ausbrach, hatte er noch nicht erlebt. Langsam begann er zu begreifen, warum die Nazis, die eine ähnliche Klaviatur bedienten wie Wengler, in Masuren auf solch eine große Resonanz stießen. Obwohl die Masuren selbst mit ihren polnischen Wurzeln überhaupt nicht in das Weltbild der Völkischen passten.
Nach der Rede begann das angekündigte Platzkonzert, und es wurde wieder laut, so laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Rath trank noch sein Bier aus, dann verabschiedete er sich von Kowalski und tippte auf seine Armbanduhr.
»Ein Uhr«, sagte er, »dann brauche ich Namen für Berlin.«
Kowalski nickte.
Rath schlenderte über das Festgelände. Er war nicht der Einzige, der auf das Platzkonzert des Musikvereins lieber verzichtete. Vor dem Kinderkarussell warteten die Mütter schon geduldig mit ihrem Nachwuchs, und ein paar Stände weiter hauten ein paar junge Burschen den Lukas, schwangen den Holzhammer, um ihre Kräfte zu messen und den Backfischen zu imponieren. Einer hatte den Bolzen gerade mit gutem Schwung bis zur Glocke katapultiert und bekam dafür unter dem Gejohle seiner Kumpels einen Kuss von seinem Mädchen. Rath erkannte Hellas blonde Zöpfe und die braune Uniform der SA. Ihr Freund war nicht das einzige Braunhemd auf dem Festgelände; die Jüngeren vor allem hatten das Konzert verlassen und standen vor dem Lukas und vor der Schießbude, keiner älter als Mitte zwanzig. Auch die an der Schießbude waren umringt von Dorfschönheiten. Uniformen, so dachte Rath bei dem Anblick, waren offensichtlich immer noch wichtig in
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