Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
zwölf Jahren treu bekannt haben. Meine Damen und Herren, ich begrüße die Familien aus Berlin und Pommern, die seit Jahren bei uns im schönen Masuren ihre Sommerfrische verbringen und uns damit stets aufs Neue ihre Verbundenheit zeigen. Und genauso herzlich begrüße ich all jene, die heute zum ersten Mal den Jahrestag der Volksabstimmung mit uns feiern. Mögen Sie wiederkommen! Mögen Sie nächstes Jahr wiederkommen, in zehn Jahren, in zwanzig und in fünfzig Jahren!« Der Landrat ließ seinen Blick durch die Reihen gleiten wie ein Wanderprediger, der gerade die frisch Getauften begrüßt. »Und nun begrüßen Sie mit mir einen Mann, der vor zwölf Jahren unerschütterlich dafür gekämpft hat, dass der gierige Griff der Polen nach unserer Heimat abgewehrt werden konnte! Meine Damen, meine Herren, begrüßen Sie Gustav Wengler!«
Der Landrat trat ab, und aus dem hinteren Bereich des Kriegerdenkmals kam Direktor Wengler, auch er heute gewandet in Stresemann und Zylinder, und ging gemessenen Schrittes ans Rednerpult. Das war eindeutig effektvoller, als vorne vom Tisch aufzustehen. Rath musste grinsen bei der Vorstellung, dass Wengler ewig mit dem Redemanuskript unterm Arm hinter irgendeinem Baum oder einer Säule auf seinen Auftritt gewartet hatte, doch die Leute hier schienen die Künstlichkeit dieser Inszenierung nicht zu bemerken, sie jubelten dem Herrn der Luisenhöhe zu wie einem Volkstribun. Rath klatschte brav mit, aber eigentlich fühlte er sich unwohl dabei. Er konnte nicht viel anfangen mit dem nationalen Pathos, von dem Wachsmanns Rede getrieft hatte und das offensichtlich auch zu Gustav Wenglers Repertoire gehörte. So viel wurde schon mit den ersten Sätzen klar, die gespickt waren mit Worten wie Heimat , Vaterland oder Treue .
Allerdings war der Direktor der eindeutig bessere Redner. Was Rath wunderte, hatte er doch immer gedacht, dass Redetalent das Wichtigste sei, was ein Politiker mitzubringen hatte. Aber vielleicht war Wengler ja auch ein besserer Politiker als Wachsmann. Der Unternehmer schien so etwas wie der heimliche Herrscher dieser Stadt zu sein. Vielleicht nicht einmal der heimliche.
»Wir alle wissen, was vor zwölf Jahren geschehen ist«, sagte Wengler. »Vielen erscheint es heute selbstverständlich, dass Masuren deutsch geblieben ist, aber das war es nicht, wir mussten dafür kämpfen. Polen wollte uns die geliebte Heimat entreißen, Polen hat alles dafür getan, Hass und Zwietracht zu säen unter uns …«
Rath musste an Rammosers Worte denken, dass Wengler und sein Schlägertrupp es waren, die damals Hass und Zwietracht in die Stadt gebracht hatten. Wie viele von denen heute ein braunes Hemd tragen mochten? Die Treuburger SA, die geschlossen einen ganzen Biertisch besetzt hatte, lauschte Wenglers Worten tatsächlich noch aufmerksamer als die übrigen Leute. Aber ein Hakenkreuz konnte er am Direktor der Luisenhöhe nirgends entdecken, nicht einmal den kleinen Anstecker am Revers, den Hitlers Parteigenossen normalerweise so gern zur Schau trugen. Vielleicht gehörte er der Partei ja auch gar nicht an, vielleicht nutzte er die SA nur für seine Zwecke. So wie Johann Marlow in Berlin, der den Ringverein Berolina beherrschte, eine der mächtigsten Verbrecherorganisationen der Stadt, ohne jemals Mitglied gewesen zu sein. Und viel mehr als eine Verbrecherbande war die SA in Raths Augen auch nicht, jedenfalls in Berlin. Hier in Treuburg schien das anders zu sein, hier wirkten die SA – Leute beinahe friedlich, wie sie da so saßen vor ihren Biergläsern.
»Doch die Rechnung der Polen ist nicht aufgegangen«, fuhr Wengler fort. »Wir Treuburger haben all ihrer List und Tücke widerstanden, wir haben uns zum Reich bekannt, in Treue fest und unerschütterlich. Wir haben nicht nachgegeben! Obwohl die polnische Propaganda mit ihren Lügen sogar ein Menschenleben gefordert hat.« Der Direktor machte eine Pause, kurz, aber effektvoll. »Die meisten hier wissen, wovon ich rede. Von wem ich rede. Von einer Frau aus unserer Mitte, einer Frau, die ihr Leben gegeben hat für ihr Bekenntnis zu Preußen und zu Deutschland. An jenem Tag, da sich unser Schicksal entschieden hat, das Schicksal unserer Stadt und unseres Landkreises, das Schicksal ganz Masurens, da hat sich auch das ihre entschieden.« Seine Stimme klang jetzt tatsächlich ein wenig belegt und er brach ab, als übermanne ihn die Erinnerung.
Im Festzelt herrschte absolute Ruhe. Rath schaute sich um.
Die Leute schauten gebannt nach
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