Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Deutschland, und wenn sie nur den Zweck hatten, Eindruck auf das weibliche Geschlecht zu machen. Nicht anders ging es doch auf einem rheinischen Schützenfest zu, wenn die Jungschützen in Uniform herumstolzierten und sich von den Mädchen bewundern ließen. Nur dass die jungen Burschen auf Treuburgs Abstimmungsfeier keinem Schützenverein angehörten, sondern einem politischen Schlägertrupp, der vor Kurzem noch verboten gewesen war.
Rath musste an die Kommunistenplakate denken. Die jungen Männer, die jetzt an der Schießbude standen, hatten die unter den bewundernden Blicken ihrer Mädchen abgerissen. Und die armen Socken, die sie geklebt hatten, mussten das im Schutz der Dunkelheit tun.
Der Geruch gebrannter Mandeln und süßer Lebkuchen trieb ihn weiter zu deftigeren Aromen, und er bestellte sich eine Krakauer an einem Wurststand. Polnische Würste waren in Masuren trotz der Ressentiments, die Wengler und seinesgleichen hierzulande verbreiteten, offensichtlich immer noch gefragt. Er biss hinein. Schmeckte nicht schlecht.
»Wünsche guten Appetit, Herr Kommissar!«
Er drehte sich um. Hinter ihm stand Karl Rammoser.
»Wollen Sie auch eine?«, fragte Rath. »Ich lade Sie ein.«
»Danke. Bin schon zum Essen verabredet. Mit ein paar Kollegen und Freunden.«
»Na, vielleicht kann ich mich ein andermal für Ihren Selbstgebrannten revanchieren.«
»Gerne.«
»Hier feiert ja sogar die SA in Uniform«, sagte Rath und zeigte mit der Wurst auf Hellas braunen Freund.
»Klaus Fabeck und seine Jungs? Mir ist es lieber, die tauchen hier auf dem Fest in gebügelten Uniformen auf, als dass sie sich in Zivil mit den Kommunisten prügeln.«
»Das wäre ja auch ziemlich unfair, wo es nur zwei Kommunisten am Ort gibt. Und ich-weiß-nicht-wie-viel Nazis.«
Rammoser wechselte das Thema. »Maria hat mir erzählt, Sie waren in der Kreisbücherei?«
»Ja, wegen Radlewski.«
»Verdächtigen Sie den armen Artur immer noch?«
»Wenn er hier vor mir stünde und mir glaubhaft versichern könnte, Ostpreußen die vergangenen Monate nicht verlassen zu haben, würde ich ihn nicht mehr verdächtigen.«
»Maria macht sich Sorgen um Artur. Sie glaubt auch, dass Sie den Falschen im Verdacht haben. Und Maria Cofalka kennt Artur Radlewski besser als jeder andere im Kreis Oletzko.«
»Das kann ich mir denken. Sie war mal in ihn verliebt, nicht wahr?«
Rammoser zuckte die Achseln. »Ich bin zu jung, um die Geschichte genau zu kennen, aber ich glaube, damals in der Schule hat sie für ihn geschwärmt.«
»Und vielleicht tut sie das immer noch.«
»Vielleicht.«
Rammoser schaute hinüber zum Tisch der Honoratioren, wo Gustav Wengler nun eindeutig den Mittelpunkt bildete, die Sonne, um die alle anderen kreisten. »Wie hat Ihnen denn die Rede unseres Heimatdienstvorsitzenden gefallen?«
»War eindrucksvoll.« Eine diplomatischere Antwort fiel Rath nicht ein.
»Viele sagen, Wengler sei der beste Redner im Landkreis und sollte eigentlich in die Politik gehen.«
»Na ja«, meinte Rath, »wenn Politik bedeuten sollte, den Leuten zu erzählen, was sie hören wollen, und sich damit beliebt zu machen, dann ist er bestimmt ein guter Politiker.«
»Aber wie es aussieht, ist ihm seine Brennerei wichtiger als eine politische Karriere.«
»Vielleicht auch besser so, da kann er nicht solchen Schaden anrichten.«
»Den Leuten hier gefällt, was er sagt.«
»Umso schlimmer. Genau das meine ich. Sollten Sie hier nicht mal endlich mit den Polen Frieden schließen? Das sind Ihre Nachbarn.«
»Das müssen Sie mir nicht sagen.« Rammoser zuckte die Achseln. »Aber wenn Sie Wenglers Geschichte kennen, ist wenigstens sein Hass verständlich.«
»Mag sein. Aber ich finde es reichlich geschmacklos, dass er sich nicht zu schade ist, rein um des Effektes willen sein persönliches Schicksal zu … zu … na, wie sagt man?«
»Zu instrumentalisieren«, sagte der Dorflehrer, »meinen Sie das?«
»Ja, so ähnlich.« Rath nickte. »Jedenfalls sorgt er dafür, dass die ganze Stadt von seinem Hass angesteckt wird. Und das halte ich in der Tat für gefährlich, wenn ich sehe, wie die Menschen ihm hier zujubeln. Und welche Menschen.«
»Sie müssen die Leute verstehen, die haben Angst, dass man sie vergisst, drüben im Reich.«
»Keine Sorge. Drüben im Reich wird genauso gegen den Korridor gewettert wie hierzulande. Aber in Berlin gehören die mit den Hakenkreuzen nicht zur Dorfgemeinschaft, wie das hier der Fall zu sein scheint.«
»Das«, sagte Rammoser,
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