Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Anzüge, denen man ansah, dass ihre Träger damit früher am Tag schon auf Knien über den Boden gerutscht waren, noch die missmutigen, müden Gesichter.
»Polizei!? Was wollen Sie denn von mir?«
»Nicht von Ihnen, wir wollen zu einem Ihrer Mieter. Siegbert Wengler. Wir müssten uns die Wohnung des Kollegen mal anschauen.«
»Da sind Sie an der falschen Adresse. Der wohnt nicht mehr hier.«
Wie sich herausstellte, war Siegbert Wengler erst vier Wochen zuvor ausgezogen, und niemand kannte seine neue Adresse, weder die alte Zimmerwirtin, bei der er fast acht Jahre gelebt hatte, noch Wenglers Kollegen bei der Verkehrspolizei. Enge Freunde schien der tote Hauptwachtmeister im Kollegenkreis nicht gehabt zu haben, jedenfalls gehörten die Beamten, mit denen Gräf hatte sprechen können, nicht dazu. Unterwachtmeister Scholz offensichtlich auch nicht.
»Hat Ihr Kollege sich womöglich von irgendwem bedroht gefühlt?«, fragte Gräf den Mann im Bett. »Hat er mal irgendeine Bemerkung fallen lassen, die darauf hindeutet? Gab es einen Grund, dass er so zurückgezogen lebte?«
»Tut mir leid, Herr Kriminalsekretär. Aber Hauptwachtmeister Wengler war nicht sonderlich gesprächig. Haben Sie denn eine Vermutung, wer ihn umgebracht haben könnte?«
»Wie es aussieht, derjenige, der Sie außer Gefecht gesetzt und Ihrer Uniform beraubt hat.«
Das Gesicht des Unterwachtmeisters wurde noch bleicher.
Der Kriminalsekretär holte die Zeichnung hervor, die Lange gestern nach einer Zeugenaussage hatte anfertigen lassen. Dabei war leider nur ein Allerweltsporträt herausgekommen; das Auffälligste war noch der Tschako.
»War es womöglich dieser Mann? Vielleicht ist er Ihnen ja vorher auf dem Bahnhof irgendwo aufgefallen. Jemand, der sich verdächtig benommen hat.«
Unterwachtmeister Scholz betrachtete die Zeichnung, die Gräf ihm vor die Nase hielt, ausgiebig. Dann schüttelte er den Kopf.
»Das Gesicht sagt mir nichts.«
»Schade. Hätte ja sein können.«
Scholz zeigte auf den gezeichneten Tschako. »Die Uniform da, das ist dann wohl meine?«
Gräf nickte und steckte das Bild wieder ein.
»Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber ich habe den Mann nicht gesehen. Ich habe einen Klammergriff von hinten gespürt, einen Stich im Hals, und dann wurde mir auch schon schwarz vor Augen.«
»Aber dass es ein Mann war, das wissen Sie …«
»Natürlich … Glauben Sie etwa, dass eine Frau es schaffen würde, mich zu überwältigen?«
Gräf sagte nichts.
»Und dann in der Herrentoilette. Da wäre eine Frau ja wohl sofort aufgefallen.«
»Haben Sie eine Erklärung dafür, warum niemand auf dem Bahnhof bemerkt hat, wie Sie überfallen wurden?«
»Keine Ahnung. In dem Moment, als es passierte, war niemand sonst im Waschraum, glaube ich.«
»In der Bahnhofstoilette?«
»Ja. Da bin ich immer vor Dienstbeginn. Auf dem Verkehrsturm haben wir ja keine Waschgelegenheit. Und auch keine Toilette. Da muss man schon vorsorgen. Mit einer schwachen Blase können Sie da oben nicht arbeiten.«
»Und deshalb sorgen Sie vor, verstehe.« Gräf machte eine Notiz. »Immer in diesem Waschraum …«
Scholz nickte. »Fahre mit der Wannseebahn zur Arbeit, wenn ich Dienst am Potsdamer Platz habe, da ist das doch naheliegend.«
»Nur dass ich Sie nicht falsch verstehe: Sie gehen jeden Tag auf dem Potsdamer Bahnhof in denselben Waschraum und dort auf die Toilette?«
»Sag ich doch.« Der bleiche Unterwachtmeister klang ungehalten. »Ist das so wichtig?«
»Wir werden sehen«, sagte Gräf.
Er wollte den Mann im Bett nicht mit dieser Erkenntnis belasten, aber wie es aussah, hatte der Unbekannte schon seit Tagen, womöglich Wochen, auf die Gelegenheit gewartet, Unterwachtmeister Scholz die Uniform abzunehmen und sich damit Zutritt zum Verkehrsturm verschaffen zu können.
55
S o ein verdammter Mist!
Rath hätte am liebsten eine Tür zugeschlagen, nachdem er eingehängt hatte, doch die Telefonkabinen des Treuburger Postamts waren mit Schwingtüren ausgestattet.
Lief in Berlin eigentlich überhaupt nichts richtig, wenn er sich nicht selbst darum kümmerte?
Jetzt wusste er wenigstens, warum er Charly gestern Abend nicht erreicht hatte.
Und warum Böhm ihn hatte sprechen wollen.
Kowalski hatte draußen am Wagen gewartet. »Und, Herr Kommissar«, fragte der Kriminalassistent und stieß sich vom Kotflügel ab, »was sagt Berlin? Zufrieden mit unserer Arbeit?«
»Lassen Sie uns in den Wagen steigen.«
Kowalski schien zu merken, dass irgendetwas
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