Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»mag vielleicht daran liegen, dass Berlin kein Dorf ist.«
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D er Mann lag im Krankenhaus, aber er schien keine bleibenden Schäden davongetragen zu haben. Wenigstens das.
Sie hatten dem armen Kerl auch noch Blut abgenommen, und nun lag Unterwachtmeister Erwin Scholz mit wächsernem Gesicht im Krankenbett, und seine Hautfarbe unterschied sich nur unwesentlich von der Farbe seiner Bettwäsche.
Dennoch: An der Blutuntersuchung hatte kein Weg vorbeigeführt, da war Gräf mit Böhm einer Meinung, sie mussten wissen, was den Unterwachtmeister außer Gefecht gesetzt hatte. Obwohl der Kriminalsekretär darauf wetten mochte, dass die Analyse auf eine Curare-Form hinweisen würde oder irgendein anderes indianisches Gift. Mittlerweile waren Lange und er schon so etwas wie Experten für die Pfeilgifte südamerikanischer Indianer; dennoch war es ihnen nicht gelungen herauszufinden, woher das Gift stammen mochte, das Lamkau und die anderen Ostpreußen getötet hatte. Dabei hatte der fleißige Kommissaranwärter sich sogar wissenschaftliche Bücher ausgeliehen und gebüffelt, um in der Sache weiterzukommen. War er aber nicht. Womöglich hatte sich der mysteriöse Mörder seine Gifte wirklich selber gebraut. Ein Möchtegern-Indianer, der unsichtbar durch Berlin streifte und Leute umbrachte, eine gruselige Vorstellung.
Erwin Scholz wusste von alldem noch nichts. Der Unterwachtmeister wusste dummerweise auch kaum etwas von dem, was ihm widerfahren war, bevor ihn eine Reinigungskraft mitten in der Nacht auf der Herrentoilette des Potsdamer Bahnhofs entdeckt hatte.
»Sein Körper war über Stunden betäubt, der Kreislauf hat sich davon noch nicht wieder erholt«, hatte der Arzt gesagt, bevor er Gräf zu dem Unterwachtmeister hineinließ, »Sie müssen Geduld mit ihm haben.«
Dummerweise war Geduld das Einzige, was sie derzeit nicht hatten.
Gestern hatte er wieder zugeschlagen, dieser verrückte Indianer. Und hatte diesmal einen Kollegen erwischt.
Mit der Folge, dass Gennat höchstpersönlich die Ermittlungsgruppe Vaterland personell verstärkt hatte. So gut wie alle Mitarbeiter der Mordinspektion standen Böhm nun zur Verfügung, bis auf eine Ausnahme: die Ermittlungsgruppe Phantom , die hatte der Buddha unangetastet gelassen. An Dettmann schien der Dicke seltsamerweise einen Narren gefressen zu haben, warum auch immer.
Böhm war drauf und dran, auch Gereon Rath aus Ostpreußen zurückzuholen, hatte ihn nur noch nicht an die Strippe bekommen. Reinhold Gräf konnte sich vorstellen, warum: Gereon Rath war noch nie sonderlich erpicht darauf gewesen, mit Wilhelm Böhm zu telefonieren, und er war ein Meister darin, dem Oberkommissar aus dem Weg zu gehen. Meist einfach deshalb, weil er Böhm nicht leiden konnte, manchmal aber auch, weil er irgendeine Spur hatte oder eine Ahnung, die er mit dem dicken Oberkommissar nicht teilen wollte.
Gestern hatte er geteilt. Und hatte verdammt richtiggelegen mit seiner Ahnung.
Auch die Hauptstadtpresse hatte schon Wind von der Angelegenheit bekommen. Ein Toter mitten auf dem Potsdamer Platz, das konnte man nicht unter der Decke halten. Zu viele Menschen hatten das Verkehrschaos mitbekommen, zu viele das Mordauto unter dem Verkehrsturm parken sehen.
Der bleiche Unterwachtmeister da in den Kissen sah mitleiderregend aus, doch darauf konnte Gräf keine Rücksicht nehmen. Er zückte sein Notizbuch und legte los.
»Wie gut kannten Sie Hauptwachtmeister Wengler?«
Aus dem Bett kam ein Achselzucken. »Wie man einen Kollegen eben kennt. Hat mich angelernt oben im Verkehrsturm. Mir die Technik erklärt.«
»Gibt’s da viel zu erklären?«
»Eigentlich nicht. Aber Wengler … Na, Sie wissen ja, die ältere Generation hat es nicht immer so mit Technik. Schien sich ziemlich was darauf einzubilden, die Knöpfe und Schalter da oben bedienen zu können.«
»Waren Sie mal bei Wengler zu Hause?«
»Nein.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»In Schöneberg, glaube ich.«
»Er ist umgezogen. Vor ein paar Wochen.«
»Umgezogen? Wohin?«
»Das wissen wir leider nicht. Ich hatte gehofft, er hätte Ihnen davon etwas erzählt.«
Gestern Abend hatte Gräf mit einem Trupp Spurensicherer in der Feurigstraße geklingelt, an Wenglers Privatadresse, wie sie im Personalbogen der Verkehrspolizei vermerkt war. Die Zimmerwirtin hatte misstrauisch durch den Türspalt gelugt. Kein Wunder. Neun Uhr durch, und vor der Tür standen fünf Männer, die keinen vertrauenerweckenden Eindruck machten, weder die zerknitterten
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