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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Straßenecke zur Melanchtonstraße, wo er ihren Hauseingang versteckt zwischen zwei Straßenbäumen gut im Visier hatte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie beim ersten Blick aus dem Fenster gleich seinen Buick erspähte. Denn so sicher wie er am Steinplatz noch gewesen war, fühlte er sich nun nicht mehr. Auch nicht, als er ihren Brief zum mindestens zwanzigsten Mal gelesen hatte. Ob sie ihn wirklich würde sehen wollen? Sollte er wirklich einfach hinaufgehen und an ihrer Wohnungstür klingeln? Vielleicht hatte sie sich hingelegt, sie hatte doch erzählt, wie schlecht sie im Zug geschlafen hatte. Und dann würde Greta ihm die Tür öffnen, und darauf konnte er verzichten. Er musste an das Jahr denken, als Charlys Mitmieterin im Ausland gewesen war und sie die Wohnung für sich allein gehabt, fast schon eine Art Eheleben geführt hatten …
    Wahrscheinlich wärst du doch besser zu Hause geblieben, Gereon Rath, dachte er, vielleicht ruft sie dich ja doch noch an, vielleicht in diesem Moment. Dann fiel ihm ein, dass sie seine neue Nummer am Steinplatz ja noch gar nicht kannte. Oder hatte sie es vielleicht schon im Büro versucht, weil sie ihn doch im Einsatz wusste? Und nicht ahnte, wie pflichtvergessen er heute ihretwegen gehandelt hatte? Oder doch eher seinetwegen.
    Während er noch überlegte, tat sich etwas vor dem Haus. Ein junger Mann hatte die Spenerstraße überquert und steuerte genau auf Charlys Haustür zu. Rath hatte den Mann fast ein Jahr lang nicht gesehen, doch er erkannte ihn sofort. Der Grinsemann. Guido Scherer. Charlys ehemaliger Kommilitone, jetzt Rechtsanwalt in irgendeiner armseligen Kanzlei im Wedding und Charly immer noch in innigster Freundschaft zugetan. Offensichtlich. Rath konnte es nicht fassen: Seine Wohnung hatte sie Hals über Kopf verlassen, als sei sie auf der Flucht, und dieses Arschloch empfing sie schon am ersten Tag ihrer Rückkehr aus Paris? Hatte sie womöglich all ihre Freunde zu einer kleinen Wiedersehensfeier eingeladen, all diese Juristen, mit denen er noch nie etwas hatte anfangen können? Natürlich, da würde Gereon Rath, der ungehobelte Bulle, nur stören.
    Er startete den Motor und drückte die Zigarette aus. Wenigstens wusste er jetzt endgültig, dass er nicht bei ihr klingeln würde. Er gab so viel Gas, dass die Reifen quietschten, als die Kupplung griff, so laut, dass der Grinsemann, der bereits in der Haustür stand, seinen Kopf noch einmal drehte, bevor er in diesem beschissenen Haus in der beschissenen Spenerstraße verschwand. Rath achtete nicht darauf, er ließ seine Wut weiterhin am Gaspedal aus und raste mit völlig überhöhter Geschwindigkeit aus der Straße und durch die Stadt. Zuerst ziellos, bloß raus aus Moabit, das war sein einziger Antrieb, dann aber, ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, doch mit einem Ziel, auch wenn er das zunächst gar nicht merkte, als er sich mehr und mehr Richtung Süden vorarbeitete. Erst, als er den Buick im Schatten der Hochbahn über die Gitschiner Straße in den Osten lenkte, wurde ihm klar, dass er zum Luisenufer fuhr.
    Erinnerungen wurden wach, als er am Straßenrand parkte und Kirie aus dem Wagen springen ließ, Erinnerungen, von denen allzu viele dummerweise mit Charly zu tun hatten. Der Hund schnupperte an einem Baum, der am Straßenrand stand, am Rande der Grünanlage und des großen Spielplatzes, als erkenne er ihn wieder, wedelte mit dem Schwanz und schaute Rath erwartungsvoll an. Das Kreischen der Kinder, die sich auf der großen Sandfläche austobten, erinnerte Rath daran, wie er mit Charly einmal auf einer der Bänke in der Sonne gesessen hatte. Sich vorgestellt hatte, wie es wohl wäre, wenn eines der Kinder, das da über den Spielplatz tobte, ihr Kind wäre, ihr gemeinsames Kind. Er hatte es sich nur vorgestellt, er hatte ihr nichts dergleichen gesagt, nicht in diesem Moment und auch später nicht. Er hatte, wenn er es sich recht überlegte, überhaupt nur wenige seiner Träume mit ihr geteilt.
    Er nahm den Hund an die Leine. Kirie lief voran, erwartungsvoll, schließlich war sie diesen Weg schon ein paar Hundert Mal gegangen. In der Hofeinfahrt kam ihnen ein nass gescheitelter blonder Jüngling entgegen, im braunen Hemd, am linken Arm die Hakenkreuzbinde, die SA – Mütze noch unterm Arm. Der Nazi verschoss angriffslustige Blicke, doch Rath ließ sich nicht einschüchtern, er hatte diese braunen Burschen gefressen, seit er miterlebt hatte, wie sie letztes Jahr am Ku’damm randaliert hatten, schlimmer

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