Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Polnisch in Masuren nur noch hinter verschlossenen Türen hört.«
»Und warum erzählen Sie mir diese Geschichte?«
»Sie sind Polizist. Vielleicht sorgen Sie für Gerechtigkeit. Jakub Polakowski hat Anna von Mathée nicht ermordet, er war nur ein willkommener Sündenbock. Alljährlich tischt Wengler den Leuten hier diese Lüge auf, und die hören sie nur gar zu gern. Dann müssen sie nicht so ein schlechtes Gewissen haben wegen damals, dann wären die Polen ja viel schlimmer, die hätten ja sogar jemanden umgebracht, während man selber nur geprügelt hat oder Scheiben eingeschlagen oder Scheunen angezündet.«
Sie hatte sich richtig in Rage geredet.
»Ich weiß nicht, ob ich da viel für Sie tun kann«, sagte Rath. »Wem ist damit geholfen, wenn ich solche alten Geschichten ausgrabe? Polakowski jedenfalls nicht mehr, der ist tot.«
»Siegbert Wengler hat ihn damals festgenommen …«
»Ja und?«
»Er wusste, dass Polakowski unschuldig war. Und Gustav Wengler wusste es auch.«
»Wie bitte?«
Die Bibliothekarin nickte. »Und dennoch haben sie ihn vor Gericht gebracht, haben beide gegen ihn ausgesagt.«
»Das sind ungeheure Anschuldigungen, die Sie da vorbringen, ich hoffe, Sie sind sich dessen bewusst.«
»Das weiß ich wohl, Herr Kommissar. Sie sind der Erste, dem ich davon erzähle.«
»Karl Rammoser kennt die Geschichte nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Niemand hier in der Stadt kennt sie. Niemand würde mir glauben. Sie sind der Erste, dem ich sie erzähle.«
»Und warum denken Sie, dass ich Ihnen glaube?«
»Sie werden mir glauben.«
Maria Cofalka holte eine Mappe aus ihrer Tasche, eine Mappe mit Papieren, von denen einige aussahen, als seien sie einmal zu nass geworden, so vergilbt waren sie und gewellt. »Lesen Sie das«, sagte sie, »und dann entscheiden Sie, ob Sie sich die Akte Polakowski noch einmal anschauen.«
Sie drückte ihm die Mappe in die Hand. Rath kam sich ein wenig überrumpelt vor. Er hatte die Bibliothekarin unterschätzt.
»Herr Kommissar, Sie müssen mir etwas versprechen«, sagte Maria Cofalka. »Zeigen Sie das hier niemandem, sagen Sie niemandem, woher Sie es haben! Niemanden hier im Ort, auch nicht Karl Rammoser.«
»Ich weiß nicht, ich …«
»Passen Sie gut darauf auf.« Sie schaute ihn an mit einem flehentlichen Blick. »Das … sind eigentlich sehr private Dinge, es fällt mir nicht leicht, das aus der Hand zu geben, aber es geht um die Wahrheit, und dafür muss man Opfer bringen. Nehmen Sie sich die Zeit und lesen sie es. Ich bitte Sie darum.«
Rath schaute auf das eng beschriebene Papier. »Was zum Teufel ist das?«
»Das ist«, sagte Maria Cofalka und machte ein geheimnisvolles Gesicht, »die Wahrheit über den Tod von Anna Mathée.«
58
D ie Wahrheit über den Tod von Anna Mathée war gar nicht so einfach zu lesen, so klein und krakelig war das Ganze geschrieben. Und die Tinte schien auch nicht die beste zu sein, an einigen Stellen war sie verschmiert und verwischt.
Gleich nach seiner Begegnung mit Maria Cofalka hatte Rath sich die Mappe angeschaut. So gut das eben ging. Er hatte sich auf eine Bank ans Seeufer gesetzt und sich durch die Papiere geblättert, hatte sich bemüht, ein paar Zeilen zu entziffern, aber es war mehr ein Raten als ein Lesen gewesen. Lediglich die Unterschrift, die unter jedem Text auftauchte, konnte er mit einiger Sicherheit bestimmen, auch wenn das Wort keinen Sinn ergab. Tokala, las er, und nach einigen Vergleichen war er sicher, dass er damit richtiglag, zudem das Wort auch immer wieder im Text selbst auftauchte. Da erzählte jemand von sich in der dritten Person. Und Rath ahnte schon, wer das war.
Tokala geht nicht zurück unter die Menschen , so hatte er nach einer Ewigkeit den ersten Satz eines dieser Briefe entziffert. Wobei es eigentlich keine Briefe waren, die Maria Cofalka ihm da überlassen hatte, sie hatten kein Datum und keine Anrede, keinen Absender, nur eine Unterschrift, immer dieselbe.
Um das in Gänze zu lesen, würde er sich eine Lupe besorgen müssen, so hatte das keinen Zweck. Rath klappte die Mappe zu und schlenderte am Ufer entlang zur Stadt hinüber, passierte das Landratsamt und kam zum katholischen Friedhof, der deutlich kleiner war als der evangelische, dafür aber viel schöner lag, hinter der bescheidenen katholischen Kirche direkt am See. Rath brauchte nicht lange, bis er das Grab von Jakub Polakowski gefunden hatte, ein schlichtes mit schmiedeeisernem Kreuz; keine Blumen, nichts, das auf
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