Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
irgendeine Grabpflege hindeutete.
Denn Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn.
Jakub Polakowski
* 18. Mai 1895
† 22. August 1930
Warum war der Mann überhaupt in Treuburg begraben worden, wenn er hier offensichtlich keine Verwandten hatte oder Freunde, die sich um sein Grab kümmerten? Rath fragte sich, warum sie ihn nicht in Wartenburg auf dem Friedhof des Zuchthauses verscharrt hatten.
Jakub Polakowski war nur 35 Jahre alt geworden, kaum älter, als Rath jetzt selbst war. Eine betrogene Generation. Hatte wahrscheinlich im Weltkrieg gekämpft, und keine zwei Jahre nach dem Krieg hatten sie ihn ins Zuchthaus gesteckt. Für einen Mord, den er möglicherweise nicht begangen hatte. Wenn es stimmte, was Maria Cofalka behauptete.
Jakub Polakowski hat Anna von Mathée nicht ermordet, er war nur ein willkommener Sündenbock.
Rath ging zum Marktplatz hinauf, doch das Schreibwarengeschäft hatte geschlossen, ebenso die Buchhandlung. Fast alle Läden am Treuburger Marktplatz hatten ein Geschlossen – Schild vor die Tür gehängt, nur die Treuburger Zeitung hatte geöffnet.
»Eine Lupe?«, fragte die Frau hinter dem Tresen. »Ich denke, hinten in der Redaktion liegt so etwas. Ich weiß aber nicht, ob ich die herausgeben kann. Herr Ziegler wird jeden Moment kommen. Sein Artikel über die Abstimmungsfeier muss morgen noch ins Blatt.«
Rath zückte seinen Polizeiausweis. »Vielleicht«, sagte er, »ist es ja möglich, dass ich die Lupe hier vor Ort in Benutzung nehme?«
»Ich schaue mal nach.«
Die Sekretärin lächelte und verschwand nach hinten. Rath schaute sich um. Auf einem Tisch an der Wand stapelten sich alte Zeitungsbände des Jahrgangs 1920. Offensichtlich bediente sich Redakteur Ziegler für seine aktuelle Berichterstattung auch aus dem Archiv. Neugierig blätterte Rath durch die Seiten und fand Spott über das polnische Agitationsbüro, das Probleme habe, ein Schreibfräulein zu finden, selbst die gebotenen 500 Mk. monatlich ziehen nicht. Wie hasserfüllt die Stimmung damals gewesen sein musste, konnte er einem Kommentar entnehmen: Haß müssen wir säen , las er, und wie wir unsere Feinde von außen hassen lernen, so müssen wir auch die inneren Feinde Deutschlands mit unserem Haß und unserer Verachtung strafen. Vermittlungen sind unmöglich, nur durch Extreme kann Deutschland wieder das werden, was es vor dem Kriege war.
Aus den Zeilen sprach die chauvinistische Großmäuligkeit, die im Kaiserreich ihre Wurzeln hatte und die auch in der Republik, zumindest in deutschnationalen und völkischen Kreisen, noch immer zum guten Ton gehörte. Dieselbe Großmäuligkeit hatte Rath heute Morgen auf der Abstimmungsfeier gehört, dieselbe Großmäuligkeit hatte einen seiner Brüder das Leben gekostet und den anderen aus der Heimat getrieben.
Die Sekretärin kam zurück, in der Hand eine gewaltig große Leselupe.
»Die wird es tun. Vielen Dank«, sagte Rath und setzte sich mit Cofalkas Mappe an den Besuchertisch. Auch mit Lupe war es gar nicht so einfach, die Papiere zu entziffern; an die krakelige Handschrift musste er sich erst gewöhnen. Aber nach einer Weile ging es.
Nein, Tokala geht nicht zurück unter die Menschen, nie wieder geht er zurück. Die Menschen würden seinen Tod bedeuten, wie sie schon für seine Mutter den Tod bedeutet haben. Die Wahrheit muss sich ihren Weg bahnen ohne ihn. Und sie wird es tun, denn Winchinchala kennt die Wahrheit und wird sie in die Welt bringen auf ihre Weise. Sie kennt die Welt der Menschen und weiß sich darin zu bewegen, Tokala weiß dies nicht.
Winchinchala muß ihn verstehen. Er kann nicht zurück, nie wieder zurück. Ganz gleich, was er sagt, sie werden ihn einsperren, wenn sie ihn einmal haben, und ihn einzusperren, das ist, wie ihn zu töten, ist schlimmer noch als der Tod. Tokala bleibt nichts anderes übrig, als sein Leben weiterzuleben, allein mit der Einsamkeit und mit seiner Schuld.
Es ist geschehen, was geschehen ist am Kleinen See. Niyaha Luta ist tot, die Frau mit den roten Federn im Kleid, und nichts wird sie wieder lebendig machen. Tokala ist weggelaufen und zu spät zurückgekommen, das wird er sich nie verzeihen. Wenn er wüsste, wie er es wiedergutmachen könnte, er würde es tun.
Nie wird er vergessen, wie er sie hat liegen sehen im seichten Uferwasser. Der böse Mann ist weg, sie ist wieder allein, nur noch ihr Körper liegt da, schaukelt leise mit den
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