Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
der Tasche. »Der Durchsuchungsbefehl und der Haftbefehl geben mir jedes Recht dazu.« Er lächelte den Koch an. »Also geben Sie sich lieber hübsch bescheiden, dann können wir das Ganze hier halbwegs unauffällig über die Bühne bringen.«
Unger sagte nichts mehr.
Sie schlossen die Bürotür und platzierten den Koch auf einen Stuhl, neben dem Lange Aufstellung nahm, während Charly zwei Pappkartons mit Akten füllte und mit dem Inhalt von Ungers Schreibtisch. Der Chefkoch schwieg und warf ihr giftige Blicke zu. Durch die große Glasscheibe konnte Charly sehen, dass so ungefähr jeder Mitarbeiter in der Küche mitbekommen hatte, dass da im Chefbüro irgendetwas Ungewöhnliches vor sich ging: Alle arbeiteten weiter, als sei nichts geschehen, riskierten aber immer wieder ein paar vorsichtige Seitenblicke.
Einen der schweren Kartons nahm Lange, den anderen sollte Unger tragen.
»Wie komme ich dazu?«, fragte er. Das ging ihm nun wohl doch zu weit.
»Gut«, sagte Lange, »Fräulein Ritter? Rufen Sie doch bitte im sechzehnten Revier an und fordern ein paar Schutzpolizisten an, die uns bei diesem renitenten Tatverdächtigen hier helfen. Und beim Kistentragen.«
Charly hatte schon zum Telefonhörer gegriffen und den Zeigefinger in die Wählscheibe gesteckt, da besann Unger sich eines Besseren. Er nahm den Karton vom Schreibtisch und guckte beleidigt.
Charly öffnete den Männern die Tür, und sie verließen das Büro. An der Stechuhr begegneten sie einem dicken Mann, der sich gerade eine Kochmütze aufsetzte. Unger glotzte den Dicken an.
»Fritzsche, was machen Sie denn hier?«
Der Dicke lächelte verlegen. »Direktor Fleischer hat mich angerufen«, sagte er, »meinte, ich müsste Sie heute vertreten.«
»Richten Sie sich schon mal auf eine etwas längere Vertretung ein«, sagte Lange.
Dann verließen sie die Zentralküche von Haus Vaterland . Mit dem Pappkarton vor der Brust wirkte Manfred Unger wie ein Mitarbeiter, den man gerade entlassen hatte.
57
H inter dem Kreiskriegerdenkmal, auf der Brücke, die über die Kleinbahngleise führte, klang der Festtrubel nur noch wie ein fernes Rauschen. Die Stimmung auf dem Festgelände hatte mit der patriotisch getragenen der morgendlichen Festreden nicht mehr viel gemein, die Leute lachten und lärmten und hatten ihren Spaß, die ersten Volltrunkenen stierten vor sich hin oder versuchten, nach Hause zu torkeln. Bald würde es wahrscheinlich die erste Schlägerei geben und irgendwann später ein paar neue Liebespärchen. Ohne den ganzen vaterländischen Bombast war das hier eben auch nur ein ganz normales Volksfest.
Rath hatte sich etwas zurückgezogen, er stand an der Brüstung, klopfte eine Overstolz gegen den Deckel seines Zigarettenetuis und schaute über den großen Sportplatz zum See hinüber und zur Badeanstalt. Kowalski hatte er weggeschickt, Adamek zu suchen, solange der noch ansprechbar war, um den Alten an ihre Verabredung zu erinnern. Er war froh, einen Moment allein zu sein. Jemandem zu erzählen, dass ein Angehöriger gestorben war oder ein Freund, und das auch noch eines gewaltsamen Todes, war eine Seite seines Berufs, die er hasste. Auch wenn dieser Jemand so ein aalglatter Kerl war wie Gustav Wengler.
Rath zündete die Zigarette an und warf das Streichholz auf die Schienen der Kleinbahn. Er hatte keine Schritte gehört und erschrak, als er plötzlich angesprochen wurde.
»Herr Kommissar, entschuldigen Sie die Störung, hätten Sie wohl einen Augenblick Zeit für mich?«
Maria Cofalka, die Bibliothekarin, stand da und schaute ihn an, nicht ganz so schüchtern, wie er sie kannte. Und auch nicht mehr ganz so nüchtern.
»Ich meine, nur, falls es Ihnen gerade passt …«
»Natürlich!« Rath bemühte sich, freundlich zu wirken, obwohl sie ihn aus seinen Gedanken gerissen und seine Ruhe gestört hatte. »Ist Ihnen doch noch etwas eingefallen zu Artur Radlewski?«
»So ähnlich.« Maria Cofalka lächelte und wirkte plötzlich zehn Jahre jünger. Wahrscheinlich genau die zehn Jahre, die der Dutt sie älter machte. »Karl sagt, man kann Ihnen vertrauen. Herr Rammoser, meine ich.«
»Das ehrt mich, dass er das sagt. Haben Sie denn etwas, das Sie mir im Vertrauen erzählen wollen?«
»Vielleicht«, sagte sie und schwieg einen Moment. »Was halten Sie von Herrn Wengler?«, fragte sie schließlich.
Rath zuckte die Achseln. »In meinem Beruf tut es nichts zur Sache, was ich von den Leuten halte. Es kommt darauf an, was sie getan haben. Und was sie mir
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