Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
erzählen können.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht.« Sie nickte nachdenklich. »Was hatte Wengler denn so Wichtiges mit Ihnen zu besprechen, vorhin?«
»Sie haben uns beobachtet?«
»Ich habe rein zufällig gesehen, wie Sie mit ihm durch den Park geschlendert sind.«
»Sie werden verstehen, dass ich darüber mit Ihnen nicht sprechen kann. Nur so viel: Er hatte nichts mit mir zu besprechen, ich habe ihm eine traurige Mitteilung machen müssen.«
»Oh, das tut mir leid.« Sie schien überrascht. »Sein Bruder?«
»Ja. Wie kommen Sie darauf?«
»Sie verdächtigen Artur, er habe ein paar Schwarzbrenner umgebracht, nicht wahr? Die für den Tod seiner Mutter verantwortlich sind.«
Rath nickte.
»Er tut so etwas nicht, glauben Sie mir. Artur hat Wenglers Schwarzbrenner immer gewähren lassen, obwohl sie ihren Fusel in seinen Wäldern herstellen und schmuggeln. Er hält sich raus aus ihren Geschäften.«
» Wenglers Schwarzbrenner ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Gustav Wengler hatte mit diesen Geschichten nichts zu tun.«
»Ja, diesen Eindruck versucht er zu erwecken.« Sie schaute ihn an. »Herr Kommissar, Sie sollten Gustav Wengler nicht alles glauben, was er Ihnen erzählt.«
»Sie mögen den Mann nicht besonders, habe ich recht?«
»Ich habe meine Gründe.«
»Vielleicht sollten Sie mir die mal erklären.«
»Deswegen bin ich hier.« Es schien sie Überwindung zu kosten, das zu erzählen, was sie auf dem Herzen hatte; sie schaute sich um, ob auch wirklich keine Mithörer in der Nähe waren. »Glauben Sie Gustav Wengler nicht, Herr Kommissar, die Geschichten, die er erzählt, die Geschichten über seine Verlobte und ihren Tod, das ist alles Lüge.«
»Sollen wir zum See hinuntergehen?«, fragte Rath, »da sind wir unter uns.«
Sie nickte. »Entschuldigen Sie, dass ich so rede. Eigentlich ist es nicht meine Art, schlecht über andere Menschen zu sprechen.« Sie drehte sich um zum Kriegerdenkmal, von dem immer weniger Volksfestlärm herüberdrang, je mehr sie sich dem Seeufer näherten. »Aber ich habe das Gefühl, in dieser Stadt weiß niemand mehr, wer gut und wer böse ist.«
»Und Gustav Wengler ist böse?«
Sie nickte, ohne auch nur einen Moment zu zögern. »Ja«, sagte sie. »Gustav Wengler ist ein großer Heuchler. Er hat einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht.« Sie schaute über den See. »Der Polack«, sagte sie schließlich, »hat Anna von Mathée nicht getötet.«
»Wer?«
»Der Polack. Den Wengler immer so hinstellt, als sei es ein hinterhältiger Polenagitator gewesen.«
»Polack? Sagt der Name nicht alles?«
»Der Name sagt gar nichts, den haben Wengler und seine Leute ihm gegeben. Eigentlich hieß er Polakowski.«
»Hieß?«
»Er ist tot. Umgekommen bei einem Fluchtversuch aus dem Zuchthaus Wartenburg.« Sie senkte den Kopf. »Er liegt auf dem Friedhof drüben am See.«
»Der katholische …«
»Katholik zu sein, das war sein erster Fehler – neben seinem polnischen Namen. Jedenfalls in den Augen des Heimatdienstes. Und sein zweiter, dass er sich an der allgemeinen Hysterie und dem Polenhass nicht beteiligen wollte, der vor zwölf Jahren hier grassierte.«
»Dann gehörte er nicht zum polnischen Agitationsbüro?«
»Er war Arzt. Ein junger Assistenzarzt hier bei uns am Krankenhaus. Drüben in der Graudenzer Straße.«
»Also ein Arzt, der für die polnische Sache eingetreten ist …«
»Sie sind Wengler schon viel zu sehr auf den Leim gegangen, Herr Kommissar. Inzwischen glauben alle hier diese Geschichte, doch Jakub Polakowski ist nicht für die polnische Sache eingetreten, er ist für polnische Menschen eingetreten.«
»Entschuldigen Sie. Erzählen Sie einfach.«
»Einmal waren die Opfer einer Schlägerei zu verarzten, einer der vielen, die es damals gab in unserer Stadt. Diesmal hatte es neben dem Opfer, einem vom polnischen Agitationsbüro, auch einen der Angreifer erwischt. Lamkau, einen von Wenglers Leuten.«
Rath nickte.
»Polakowskis Fehler war, dass er sich zunächst um Roeska vom Agitationsbüro gekümmert hat, der war ohne Bewusstsein und hatte die schwereren Verletzungen. Und das haben Lamkau und Wengler und die anderen ihm übel genommen. Seitdem war Doktor Polakowski nur noch der Polack.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Ich habe den Doktor gekannt. Er kam öfter in die Bücherei. Und er hat keine polnischen Bücher ausgeliehen, so viel kann ich Ihnen sagen, obwohl wir davon eine ganze Menge haben, sogar heute noch, wo man
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