Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
stand, erschien immer unwahrscheinlicher, dennoch war es gut, dass Nebe sich darum kümmerte, der auch schon einige Mordermittlungen zu einem erfolgreichen Ende geführt hatte. Wenn etwas an diesem Fall mit ihrer Mordserie zu tun hätte, dann würde einem wie Nebe das auch auffallen.
Die Fleischerei lag in der Kleinbeerenstraße. Eine typische Bahnhofsgegend. Die Philharmonie war nicht weit und auch nicht die Wilhelmstraße und das Regierungsviertel, dennoch machten die Häuser einen heruntergekommenen Eindruck, je weiter man sich von der Möckernstraße entfernte. Gräf ließ die Männer vom ED im Auto warten und betrat das Ladenlokal. Eine rotwangige Frau schaute ihn erwartungsvoll an. Die Auslage in der Glasvitrine sah wenig vertrauenerweckend aus; alles ziemlich fett und sehnig, Knochenstücke zum Auskochen: Arme-Leute-Fleisch.
Die Frau guckte enttäuscht, als sie merkte, dass Gräf nur fragen und nichts kaufen wollte.
»Ein Herr Siegbert Wengler«, sagte er und zeigte ihr ein Foto ohne Tschako, »ist über Ihren Telefonanschluss zu erreichen. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«
»Da müsste ich meinen Mann fragen.« Sie schaute misstrauisch. »Wer will denn das wissen?«
Gräf legte seinen Dienstausweis neben das Foto.
»Ich bin ein Kollege von Herrn Wengler.«
Die Frau studierte den Ausweis genau. »Sie sind wirklich Polizist?«
Gräf holte auch seine Hundemarke hervor. »Hat Ihr Misstrauen einen besonderen Grund?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Achseln. »Herr Wengler. Er hat gesagt, es könnte sein, dass irgendwann mal jemand kommt und nach ihm fragt. Dann sollten wir nichts sagen, hat er gesagt.«
»Er hatte vor irgendjemandem Angst, das vermuten wir auch«, sagte Gräf. »Und das offensichtlich zu Recht. Er wurde ermordet.«
»Mein Gott!«
»Sie können mir also guten Gewissens die Adresse von Siegbert Wengler verraten, ich bin nicht der, vor dem er Angst hatte. Ich und meine Kollegen draußen im Auto, wir versuchen herauszufinden, wer ihn getötet hat. Also sagen Sie mir doch bitte, wo er gewohnt hat.«
Die Fleischersgattin konnte es nicht nur sagen, sie hatte sogar einen Schlüssel.
Wenglers Wohnung lag im selben Gebäude wie die Fleischerei, allerdings im Hinterhaus. Die Frau führte sie über den Hof und zwei Treppen hoch, bis sie vor einer hölzernen Tür standen. Am Klingelschild fehlte der Name.
Die Wohnung war nicht sonderlich aufgeräumt. Siegbert Wengler schien sich für Pferderennen interessiert zu haben, den Zeitungen nach zu urteilen, die auf dem Boden verteilt herumlagen. Eine Hose und ein Hemd waren nachlässig über eine Stuhllehne geworfen. Die EDler machten sich sofort daran, Fingerabdrücke zu sichern, das gehörte zu ihrer Routine.
Um nicht den Unmut der Spurensicherer auf sich zu ziehen, streifte Gräf Handschuhe über, bevor er den Schreibtisch des Toten untersuchte, der direkt am Fenster stand. Die interessantesten Dinge fand er in der abgeschlossenen Schublade: drei Todesanzeigen, eine aus Dortmund, eine aus Wittenberge, eine aus Berlin. Das beseitigte auch die letzten Zweifel: Siegbert Wengler gehörte in eine Reihe mit Lamkau, Wawerka und Simoneit.
Gräf reichte die Traueranzeigen einem Spurensicherer, dann wandte er sich einem anderen Fund in der Schublade zu, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte: ein schlichtes schwarzes Notizbuch, das ihm bekannt vorkam, ohne dass er hätte sagen können, warum und woher. Wie die Notizbücher, die sie bei der Kripo benutzten, sah es nicht aus, es war viel größer und auch dicker, eine richtige Kladde.
Er schlug das Buch auf und starrte auf Zahlenkolonnen.
Und im selben Augenblick, da er die Zahlen sah, wusste er, woher er dieses Buch kannte: Das hatten sie vor gut einer Woche aus dem Büro von Herbert Lamkau geholt, zusammen mit den Aktenordnern. Er blätterte und fand eine Bleistiftanmerkung, die er selbst dort hineingeschrieben hatte.
»Kommen Sie doch bitte mal her«, sagte er zu einem der Spurensicherer, der dem Befehl des Kriminalsekretärs eher lustlos Folge leistete. Gräf reichte ihm die Kladde. »Schauen Sie doch mal, ob Sie hier irgendwo Fingerabdrücke sichern können. Je mehr, desto besser.«
60
E r hatte dann doch ein bisschen zu viel getrunken. Mehr jedenfalls, als er trinken wollte. Bevor er zum Fest zurückgegangen war, hatte Rath in seinem Hotelzimmer noch etwas in den Briefen zu lesen versucht, doch ohne Lupe war das ein Ding der Unmöglichkeit. Sosehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte
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