Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Phantasie war, dann würde er ihn jetzt fressen. Und wenn er ihn nur herbeiphantasiert hätte, dann würde er verschwunden sein, sobald er die Augen wieder aufschlug.
Er hielt die Augen geschlossen, im Gefühl, dass seine Augenlider die einzigen Muskeln waren, die ihm noch gehorchten. Und als er sie nach einer Weile, in der er nicht gefressen worden war, wieder öffnete, war der Hund tatsächlich verschwunden. Stattdessen erblickte Rath eine Gestalt, die ihn an eine andere Illustration aus seinen Jugendbüchern erinnerte. Oder eigentlich an zwei.
An Robinson Crusoe. Und an Lederstrumpf.
Ein Mann mit einem unglaublich wilden Vollbart und struppig langen Haaren stand da, gekleidet in Leder und Fell, einen Bogen geschultert und einen Köcher mit Pfeilen, auf dem Kopf eine Biberfellmütze wie der Waldläufer aus den Lederstrumpfbüchern.
Rath starrte die Erscheinung an, zu mehr war er nicht mehr in der Lage.
Er schloss die Augen und spürte noch, wie sein Mund sich zu einem friedlichen Lächeln entspannte. Sogar das Zittern hatte aufgehört. Er spürte einen tiefen Frieden und trotz aller Kälte plötzlich eine große Wärme.
Und dann fiel er endgültig in die Dunkelheit. In eine Dunkelheit, die der zunehmende Mond nicht mehr erreichte.
63
A lles war mit schwarz-weißen Fahnen drapiert, auch der Sarg, der zwischen all dem schwarz-weißen Tuch, das überall in der Kirche hing, kaum noch auffiel. So viel Fahnenschmuck hatte es noch nie gegeben auf der Beerdigung eines Polizeibeamten, sagten die Kollegen. Charly konnte das nicht einschätzen, sie war das erste Mal auf so einer Veranstaltung, und sie wusste gleich, dass sie es hasste. Der ganze Pomp, die gebügelten Uniformen, die geschwollenen Reden – die letzte Ehre erweisen, so nannte man das wohl.
Die Kirche war nicht sonderlich gefüllt, lange Bankreihen waren frei geblieben. Heutzutage war ein toter Polizist eben nichts Besonderes mehr in Berlin; immer öfter gerieten Kollegen ins Kreuzfeuer, wenn Kommunisten und Nazis mal wieder aufeinander schießen mussten. Oder wurden kaltblütig umgebracht, wie die Kollegen Anlauf und Lenk letztes Jahr.
Der Fahnenschmuck und die üppige Blumendekoration schienen die Leere der Kirche, das Fehlen einer anständigen Trauergemeinde kompensieren zu wollen. Auch an Kränzen mangelte es nicht, der Sarg ertrank geradezu in ihnen, und längst nicht alle kamen aus Polizeikreisen. Aber natürlich hatte auch Polizeipräsident Grzesinski einen ablegen lassen, ebenso Heimannsberg, der Kommandeur der Schutzpolizei, persönlich erschienen waren sie allerdings beide nicht. Grzesinskis Vize Bernhard Weiß hielt die Traueransprache, eine Ehre, die einem Polizisten sonst eigentlich nur zukam, wenn er von einem Kommunisten getötet worden war oder von einem Nazi. Aber auch der Tote vorne im Sarg war in Ausübung seines Dienstes gestorben.
Nicht der Freistaat Preußen habe den ausufernden Fahnen- und Blumenschmuck in der Kirche bezahlt, so hatte man ihr erzählt, und das hätte sie auch gewundert angesichts der Ebbe, die schon seit Längerem in der Staatskasse herrschte. Nein, der Bruder des toten Polizisten hatte dafür gesorgt, dass es bei dieser Beerdigung beinahe so prächtig und staatstragend zuging wie sonst nur bei toten Ministern oder Hohenzollern. Und auch die große Zahl der Kränze war wohl zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf dessen Finanzkraft und Einfluss zurückzuführen. Der Heimatdienst Marggrabowa hatte einen Kranz gestiftet, die Treuburger Bürgerschaft einen weiteren, der größte aber stammte von ihm persönlich: In ewigem Andenken , so stand es auf der Schleife eines üppigen Kranzes mit weißen und dunkelvioletten, fast schwarzen Astern, Dein Bruder Gustav .
Charly versuchte, der Rede von Bernhard Weiß zu lauschen, doch es gelang ihr nicht, und deswegen war sie auch nicht hier. Sie hatte Gustav Wengler im Blick zu halten, der schräg vor ihr in der ersten Reihe stand, mit gesenktem Kopf.
Einmal war sie dem Bruder des toten Polizisten schon begegnet, im Präsidium, er hatte sich dort gemeldet und brav alle Fragen beantwortet, die die Mordkommission Vaterland im Zusammenhang mit dem Tod von Siegbert Wengler und den Ereignissen von 1924 an ihn hatte. Viel herausgekommen war dabei nicht. Sie hatten nach der Vernehmung darüber gesprochen im Kollegenkreis, und nicht nur Charly hatte den Eindruck gewonnen, dass Gustav Wengler mehr verheimlichte, als er preisgab.
Die Mordkommission Vaterland hätte sich gern mit
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