Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Schatten.
Gab es hier eigentlich noch Wölfe, fragte er sich, nicht dass du durch dein Rufen noch irgendwelche Raubtiere anlockst! Bevor Rath die Umrisse erkennen konnte, hatte sich der Schatten schon wieder aus seinem Blickfeld entfernt.
Überall in seinem Gesicht juckte es, doch er hatte es aufgegeben, die Mücken zu vertreiben. Er befühlte einen Stich an der Oberlippe und stellte fest, dass er zu zittern begonnen hatten, jetzt hörte er sogar seine Zähne klappern.
Verdammt, war das kalt hier!
Er schloss die Augen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch es fiel ihm immer schwerer. Wieder hörte er ein Rascheln und schlug die Augen auf, erschrak, als etwas unglaublich Großes sich zu ihm hinunterbeugte und ihn neugierig anschaute. Ein Kopf mit einem riesigen Geweih.
Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Ein Elch. Ein Elch glotzte ihn an und schaute ihm beim Sterben zu.
Er musste an Charly denken, an ihre Worte in Tempelhof.
Vielleicht siehst du ja einen Elch.
Charly. Sollte dieser verkorkste Abschied am Flughafen ihr endgültig letzter gemeinsamer Abend gewesen sein? Sollte er wirklich völlig sinnlos hier im Moor verrecken, wo ihre gemeinsame Zukunft doch gerade erst beginnen sollte?
Wo er sie gerade, gestern erst, das erste Mal betrogen hatte. Er dachte an die Nacht, die Nacht mit Hella, und plötzlich kam ihm seine jetzige Situation vor wie eine Strafe dafür.
Doch das war es natürlich nicht. Es gab keinen Sinn in alldem, Sterben war genauso sinnlos wie der ganze Rest des Lebens. Er musste an den Heldenfriedhof in Markowsken denken. Wer je von sinnvollem Sterben sprach, von Heldentod, dem Opfer fürs Vaterland und ähnlichem Schwachsinn, war ein verdammter Lügner. Doch ob sinnlos oder nicht, er wollte leben, verdammt noch mal, einfach leben, so sinnlos es auch sein mochte!
»Na komm«, sagte er zu dem Elch, behutsam, um ihn nicht zu verscheuchen, »na komm. Noch einen kleinen Schritt zu mir.«
Tatsächlich kam der große Kopf noch etwas näher, der Elch schien richtiggehend Zutrauen zu diesem halb aus dem Boden ragenden Menschen zu seinen Füßen entwickelt zu haben. Rath hatte einmal irgendwo gelesen, dass Elche kaum Scheu zeigten dem Menschen gegenüber, ganz anders als Rehe oder Hirsche.
Dieser hier hatte jedenfalls keine.
Jetzt oder nie.
Mit einem schnellen Griff versuchte er, das Geweih zu erreichen, meinte sogar schon, die weiche Haut über dem Horn zu spüren, da machte das Tier einen Satz zurück und riss den Kopf nach oben. Rath griff ins Leere, der Elch machte einen weiteren Schritt zurück ins Gebüsch und trabte dann langsam und majestätisch davon, beschienen vom Mondlicht.
Rath blickte ihm hinterher, bis er verschwunden war.
Verdammter Idiot, dachte er, vertreibst deinen einzigen Freund in dieser Wildnis.
»Hilfe«, rief er noch einmal und war erstaunt, wie schwach seine Stimme mittlerweile krächzte. Hatte er schon so viel Kraft an dieses erbarmungslos kalte Moor verloren?
Hatte er schon seinen Verstand verloren?
Jedenfalls war er kurz davor.
Seine Pistole fiel ihm ein, und er fummelte die Walther aus dem Holster. Seine Hände konnten den kalten Stahl kaum noch fassen, dennoch gelang es ihm, die Waffe zu entsichern und einen Schuss abzufeuern. Beinahe hätte der Rückstoß sie ihm aus der klammen Hand geschlagen, im letzten Moment konnte er sie auffangen und steckte sie sicherheitshalber zurück ins Holster. Vielleicht würde er die Walther noch brauchen, sollte es hier tatsächlich Wölfe geben.
Die Verzweiflung kroch in ihm hoch, und die war schlimmer noch als die Kälte. Die Hoffnungslosigkeit durchtränkte ihn wie schwere schwarze faulige Farbe, eine dickflüssige Brühe, die überall hinfloss und keinen Winkel ausließ. Und gleichzeitig meldete sich ganz tief unten unbändiger Lebenswille. Doch drang der nicht mehr durch bis an die Oberfläche.
Die Mücken waren ihm inzwischen völlig egal, sollten die ihn doch auffressen, er wehrte sich nicht.
Und dann glaubte er zu phantasieren.
Wieder trat ein Tier aus dem Gebüsch, ein riesiger schwarzer Hund, der ihn an die Illustration erinnerte, die in seinem Sherlock-Holmes-Buch den Jagdhund der Baskervilles darstellte, diesen riesigen, tödlichen Höllenhund. Jetzt hätte er zur Pistole greifen müssen, doch dazu war er schon nicht mehr in der Lage, seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr, sie zitterten nur noch.
Rath schloss die Augen, bereit zu sterben. Wenn dieser Höllenhund nicht die Ausgeburt seiner
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