Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
eines aus dem Regal und schlug es auf. Ein ganzer Stapel Papier fiel ihm entgegen und segelte zu Boden. Rath hockte sich hin und sammelte es auf. Keine Lesezeichen, wie er zunächst gedacht hatte. Es waren Briefe. Nicht die kleine, krakelige Handschrift Artur Radlewskis, die Rath schon kannte, nein: eine elegant geschwungene Schrift.
Lieber Artur, ich weiß, daß ich Dich nicht werde zurücklocken können aus der Wildnis zu uns Stadtmenschen, und manchmal verstehe ich Dich nur zu gut. Allein, ich kann nicht denselben Weg wählen wie Du, ich könnte nicht so leben, ich bin nicht stark genug. Deswegen wähle ich diesen Weg, weil ich weiß, wie sehr Du die Welt der Sprache liebst und die der Schrift. Vielleicht sogar können wir auf diesem Wege so etwas wie Freunde werden. Du mußt mir nicht antworten, aber wenn Du nicht möchtest, daß ich Dir schreibe, dann laß meinen Brief bei Deinem nächsten Besuch einfach zurück. Ich werde ihn wieder in die Seiten eines Buches legen, das du ausleihen möchtest.
Rath musste nicht bis zu Ende lesen, um zu wissen, dass Maria Cofalka diese Zeilen geschrieben hatte. Der Beginn ihrer Brieffreundschaft. Rath hatte sich bereits gedacht, dass die Bibliothekarin den Austausch damals begonnen hatte. Naheliegend, dafür die Bücher zu benutzen, die sie für Radlewski immer herauslegte, die waren sozusagen ihr Briefkasten.
Sie hatte dem Schwarm ihrer Jugend geschrieben, Brief über Brief. Und Artur Radlewski, der empfänglich war für das geschriebene Wort, hatte irgendwann begonnen zu antworten. Hatte sie Winchinchala getauft, was auch immer das heißen mochte. Rath kannte außer Nscho-tschi keinen indianischen Frauennamen.
Er sammelte das Papier wieder ein, legte die Briefe zurück und stellte das Buch zu den anderen ins Regal.
Ein anderes Möbel, das direkt am Fenster stand, hatte seine Neugier geweckt. Ein Tisch, allerdings einer mit einer schrägen Tischplatte, eine Art Schreibtisch oder Sekretär, darauf sogar ein Tintenfass und die Tinte dazu, wo auch immer Radlewski das gestohlen haben mochte. Aus seinen Diebeszügen stammte wahrscheinlich auch die Petroleumlampe, die auf dem Tisch stand, und ein paar der anderen Gerätschaften, die Rath erkennen konnte: ein paar Werkzeuge, das Blechgeschirr, ein Waschbrett.
An diesem Tisch also saß Artur Radlewski und schrieb seine seltsamen, kaum zu entziffernden Briefe an Treuburgs Bibliothekarin.
Die Briefe, die Hella Rickert ihm aus der Schublade gestohlen hatte!
Immer mehr Erinnerungen kamen hoch, und Rath versuchte, sie einzusortieren. Der Tag in Treuburg. Die verschwundenen Briefe. Die Expedition in den Markowsker Wald. Der kleine See. Der alte Adamek, der einen gewaltigen Schritt vorlegte. Und dann plötzlich verschwunden war. Zusammen mit Kowalski. Die mondhelle Nacht. Das Moor. Wo er eingesunken war. Schon mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Und dann war Radlewski gekommen, der Kaubuk, und hatte ihn in seiner misslichen Lage gefunden.
An mehr konnte er sich nicht erinnern.
Rath befühlte seinen Kopf nach einer Beule, seinen Hals nach einer Einstichstelle, doch er fand nichts.
Was würde der Kaubuk mit ihm machen, wenn er merkte, dass der ungebetene Gast erwacht war?
Dass Rath Polizist war, musste er längst wissen: Dienstmarke und Dienstausweis fehlten, ebenso die Dienstwaffe.
Töten würde er ihn jedenfalls nicht, das hätte er schon längst getan, wenn er das gewollt hätte.
Rath öffnete eine Tür in dem Schreibtisch und staunte. Jungfräulich weißes Papier war hier gestapelt. Und Seite an Seite standen ein paar ledergebundene Kladden, einige wie neu, andere schon ziemlich abgegriffen.
Die winzige Handschrift Radlewskis. Rath klappte die Taschenlupe auf und versuchte, ein bisschen zu lesen. Tagebücher, ohne Zweifel: Artur Radlewski hatte, um in der Einsamkeit dieser Wildnis nicht wahnsinnig zu werden, Tagebuch geführt.
Die Kladden stammten aus einem Papierwarengeschäft, wie wohl auch Tintenfass und Briefpapier.
Rath setzte sich und schlug das Buch auf, das am ältesten und abgegriffensten wirkte. Radlewski hatte die Seiten in derselben kleinen, engen Schrift gefüllt, in der er auch seine Briefe an Maria Cofalka geschrieben hatte.
Er ist wieder unterwegs und schleicht durch die Wälder, hat seinen Unterschlupf verlassen und schnürt durchs Gehölz, niemand wird ihn hören, niemand wird ihn sehen. Eine gelbfarbene Trägheit liegt in der Luft, selbst im Schatten der Bäume spürt er die Wärme des Tages, der
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