Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
den Kollegen, die der Polizeispitze bis hinunter auf die Straße gefolgt waren, ertönte der Ruf, von dem eben noch das Treppenhaus der Burg erfüllt gewesen war: »Hoch die Republik! Hoch unsere Chefs!«
Charly verspürte keine Lust mehr, diese Worte mitzuskandieren, mit einem Mal erkannte sie die Sinnlosigkeit dieses Tuns. Ihre Euphorie und ihr Stolz verflogen so schnell, wie sie gekommen waren, Katerstimmung machte sich breit; mit einem Mal fühlte sie die eigene Ohnmacht stärker als alles andere. Sie ahnte, nein: wusste mit einer plötzlichen Bestimmtheit, dass Worte zu wenig waren angesichts der unglaublichen Unverschämtheit, die sich die Reichsregierung in diesem Augenblick herausnahm.
Sie schaute sich nach Wilhelm Böhm um, konnte ihn unter all den Kollegen aber nirgends mehr entdecken, sie sah nur fremde Gesichter und fühlte sich plötzlich unsäglich einsam und allein.
Es war Mittwochabend, kurz nach halb sechs.
Die preußische Demokratie hatte soeben ihr Ende gefunden.
71
R ath wusste nicht, wie viele Seiten er gelesen hatte, das Zeug war streckenweise wirr und nicht immer in chronologischer Reihenfolge erzählt, aber gleichwohl faszinierend. Der Stil war ähnlich gehalten wie der seiner Briefe, doch schien Radlewski hier noch mehr von sich selbst preiszugeben. Manchmal erzählte er Details aus seinem Alltag, manchmal waren es düstere Kindheitserinnerungen, immer noch erfüllt vom Hass auf den Vater und der Liebe zur Mutter. Doch auf ein Ereignis kam er immer wieder zurück, auf das Ereignis, das er auch Maria Cofalka geschildert hatte: auf den Mord an Anna von Mathée im seichten Uferwasser des Kleinen Sees.
Radlewski hatte beobachtet, wie ein Mann Anna vergewaltigte, und nicht eingegriffen. Und als er später, voller Reue, zurückkehrte, war sie bereits tot.
An wie vielen Stellen in seinem Buch hatte er diese Szene beschrieben? Wie die Leiche der jungen Frau im Wasser trieb. Wie er fassungslos nur noch ihren Tod feststellen konnte. Wie ein junger Mann die tote Anna entdeckte. Wie der Mörder zum Tatort zurückkehrte, in Begleitung eines uniformierten Polizisten. Wie der Uniformierte den jungen, trauernden Mann an der Leiche ohne Vorwarnung mit dem Gewehrkolben niederschlug. Sogar ihre Worte hatte Radlewski niedergeschrieben.
»Sollen wir den Dreckspolacken ersäufen, gleich jetzt und hier?«, fragt der Blaue.
Der Böse schüttelt den Kopf. »Er soll dafür büßen«, sagt er, »er soll den ganzen Rest seines jämmerlichen Lebens büßen.«
Und dann schaut er den Blauen an, als könne er ihm Befehle erteilen.
»Nimm ihn fest«, sagt er. »Nimm ihn fest, und dann stellen wir ihn vor Gericht. Alle sollen wissen, was er getan hat.«
Den Namen Polakowski erwähnten Radlewskis Aufzeichnungen mit keiner Silbe, vielleicht hatte er den jungen Assistenzarzt aus dem Krankenhaus auch gar nicht gekannt, doch konnte es niemand anders sein.
Sollen wir den Dreckspolacken ersäufen?
Rath musste an den Holzhändler im Flugzeug denken. Auch der hatte von Dreckspolacken gesprochen. Nur im Scherz, aber mit dem Schimpfwort war es ihm ernst gewesen. Viel zu viele Deutsche sprachen mittlerweile verächtlich und hasserfüllt von den Polen.
Und viel zu viele Polen hasserfüllt von den Deutschen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Rath fuhr herum. Er fühlte sich ertappt, schließlich blätterte er hier in den Tagebüchern eines anderen. Auch wenn sie nicht geschrieben waren wie Tagebücher und wild in den Zeiten hin und her sprangen, so waren sie doch nichts anderes.
Der Mann, der im Raum stand, riss ihm ohne ein Wort das Buch aus der Hand und stieß ihn mit einer einzigen Handbewegung vom Stuhl.
Rath landete auf dem Boden und schaute auf die Naturgewalt, die da in die Hütte gestürmt war. Der Mann sah nur zum Teil so aus, wie er ihn aus seinen Traumbildern in Erinnerung hatte, der Vollbart etwa und die Lederkluft. Auf dem Kopf aber trug Artur Radlewski diesmal nichts, und Rath erkannte, dass der Mann sein langes dunkelblondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten hatte und ein indianisch anmutendes Stirnband trug.
Und eines wurde ihm mit einem Male klar, jetzt, wo er Radlewski leibhaftig und ohne Fieber vor sich sah: Mit diesem Bart und mit derart langem Haar konnte dieser Mann unmöglich in Dortmund und Wittenberge und in Berlin herumgelaufen sein, um den Tod seiner Mutter zu rächen. Er wäre sofort aufgefallen, selbst in einer Gruppe Landstreicher mit ähnlichen Zauselbärten wäre er aufgefallen,
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