Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Sommer ist mit Macht ins Land gekommen. Die Lindenblüten verbreiten ihren Duft und die Wintergerste auf den Feldern drüben bei Markowsken. Tokala hält inne und nimmt einen tiefen Atemzug. Auch den See kann er bereits riechen und freut sich auf das Bad im kalten, weichen Wasser …
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D ietrich Aßmann traute ihnen nicht.
Obwohl sein Alibi geplatzt war und Gustav Wengler derjenige war, der es hatte platzen lassen, war der Mann immer noch vorsichtig. Jedenfalls war er nicht so einfach gegen einen mutmaßlichen Komplizen auszuspielen wie Chefkoch Manfred Unger gegen den Einkäufer Alfons Riedel.
Er witterte eine Falle und sagte deshalb vorläufig gar nichts, ganz gleich ob Zollfahnder Kressin ihm die Fragen stellte oder die beiden Kriminalbeamten Ritter und Böhm.
Selbst Charly traute er nicht, fiel nicht herein auf ihre Freundlichkeit.
Na, wenigstens nahm der Mann sie ernst, dachte sie, wenigstens das, wenn es auch in diesem Fall eher hinderlich war.
Nach dreieinhalb Stunden mehr oder weniger ergebnislosen Verhörs hatte Böhm Dietrich Aßmann in seine Zelle zurückbringen lassen. Ein Antrag auf Haftbefehl lag schon beim Haftrichter. Sie hatten keine Eile, die Zeit war auf ihrer Seite: Früher oder später würde Dietrich Aßmann die hundertprozentige Gewissheit haben, dass ihn sein Chef im Regen stehen ließ, und dann würde er aussagen. Würde ihnen Gustav Wengler, so hofften sie jedenfalls, auf dem Silbertablett servieren. Würde ihnen genügend belastendes Material liefern, dass es auch einen Haftbefehl gegen Direktor Wengler rechtfertigte.
Sie mussten nur aufpassen, dass der Schnapsfabrikant ihnen in der Zwischenzeit nicht entwischte, aber Gräf, der die heutige Tagschicht übernommen hatte, war gut in solchen Dingen. Sie waren dazu übergegangen, bei jeder Schicht einen neuen Beamten einzusetzen, damit Wengler nicht irgendwann ein Gesicht wiedererkannte und Lunte roch. Kriminalpolizei und Zollfahnder wechselten sich regelmäßig ab.
»Was meinen Sie, macht Aßmann heute noch seine Aussage?«, fragte Bruno Kressin, der Oberzollinspektor, ein staubtrockener Beamter.
Böhm schüttelte den Kopf. »Der muss noch eine Nacht drüber schlafen, würde ich sagen. Und mit seinem neuen Anwalt sprechen. Aber morgen ist er reif, jede Wette.«
»Was mich wundert, ist, dass Aßmann dieses Alibi gewählt hat«, sagte Charly, »warum sagt er so etwas, wenn er sich nicht sicher sein kann, dass Wengler ihn deckt?«
»Vielleicht«, sagte Böhm, »war er sich sicher. Hat gedacht, sein Chef holt ihn aus der Bredouille.«
Der Zollfahnder nickte, und auch Charly schien die Erklärung einleuchtend zu sein.
Plötzlich war draußen ein Tumult zu hören, laute Stimmen, Rufe. Die Beamten schauten sich an. Charly verließ den Vernehmungsraum und trat auf den Gang, ging hinüber zum Treppenhaus, wo der Lärm herkam, wo sich eine Menge Kollegen versammelt hatten. Sie hörte noch, dass Böhm und Kressin hinterhergekommen waren, aber sie drehte sich nicht um, sie starrte auf das, was sie da sah.
Sie wusste nicht, was passiert war, während all der Stunden, in denen sie Dietrich Aßmann verhört hatten, sie wusste nicht, welche Gespräche im Büro des Polizeipräsidenten stattgefunden hatten, sie wusste nur, dass Albert Grzesinski seit heute Morgen keine Zeit gefunden hatte, sich umzukleiden: Der Polizeipräsident trug noch immer Trauerkleidung. Und kam nun die Treppe herunter, flankiert von zwei Soldaten.
Das Bild ließ keinerlei Zweifel zu: Die Reichswehr hatte den Berliner Polizeipräsidenten verhaftet und führte ihn aus seinem Dienstsitz.
Hinter Grzesinski folgten Polizeivizepräsident Bernhard Weiß und, wie immer in bestens sitzender Uniform, Schupo-Kommandeur Magnus Heimannsberg, ebenfalls von je zwei Reichswehrsoldaten in die Mitte genommen. Die Augen unter den Stahlhelmen guckten böse, doch den Gesichtern war anzumerken, dass die jungen Männer eher Angst hatten. Angst, dass die Berliner Polizeibeamten, von denen Hunderte allein am Alex beschäftigt waren, möglicherweise Widerstand gegen die Verhaftung ihrer Vorgesetzten leisten würden.
Doch es regte sich keine Hand, die Kollegen tuschelten und grummelten, sie empörten sich, aber niemand machte Anstalten einzugreifen.
Böhm hatte sich zwar in der Gewalt, doch Charly konnte sehen, dass ihm nicht passte, was er da sah. Der Oberzollinspektor murmelte eine Entschuldigung, irgendetwas mit »in die Angelegenheiten der Polizei nicht einmischen wollen«, und zog es vor,
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