Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Sie war Albert Grzesinski heute Morgen zufällig im Treppenhaus begegnet. In Cutaway und Zylinder war der Polizeipräsident unterwegs, weil Kriminalrat Mercier heute um drei beigesetzt wurde. Nun musste er in dieser Trauerkleidung einen Reichswehrhauptmann empfangen.
Sie hätte zu gern gewusst, was sich jetzt gerade im Büro des Polizeipräsidenten abspielte.
Eine halbe Stunde später, als sie Dietrich Aßmann wieder in den Vernehmungsraum geholt hatten, gab es noch keine weiteren Neuigkeiten. Wie es aussah, war Grzesinski also noch im Amt. Böhm hatte wahrscheinlich recht: Das Ganze war eine einzige Farce, so einfach würden der Polizeipräsident und sein Vize sich nicht abservieren lassen.
Charly versuchte, nicht daran zu denken und sich auf den Mann zu konzentrieren, der ihr nun gegenübersaß.
»Das ist die Kollegin Ritter«, sagte Böhm, und Aßmann schaute neugierig. »Die Kollegin hat heute Morgen mit Direktor Wengler gesprochen, Ihrem Chef. Und Ihrem Alibi.«
Aßmann runzelte die Stirn. »Und?«
»Um es kurz zu machen«, sagte Charly, »Herr Wengler streitet ab, mit Ihnen gestern Abend essen gewesen zu sein. Er habe Sie zuletzt am Sonntagabend gesehen, sagt er.«
Dietrich Aßmann verschlug es tatsächlich die Sprache.
»Das ist ein Trick«, sagte er nach einer Weile und grinste. »Sie wollen mich reinlegen.«
»Ich kann Ihnen Wenglers Aussage gerne schriftlich vorlegen.« Böhm, der noch hinter Charly stand, mit vor der Brust verschränkten Armen, bewegte sich keinen Millimeter, während er sprach. Es sah aus wie eine Marmorstatue, die lediglich die Lippen bewegte. »Wenn Sie es wünschen, können wir auch eine Gegenüberstellung mit Herrn Wengler organisieren.«
In Aßmann schien es zu arbeiten.
»Ich möchte einen Anwalt«, sagte er schließlich.
»Soll ich Doktor Schröder anrufen lassen?«, sagte Böhm. »Der vertritt Sie doch, oder?«
Aßmann schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich möchte einen anderen.«
Kein Wunder, dass er den Anwalt wechseln will, dachte Charly. Helmut Schröder war der Berliner Rechtsanwalt, der auch Gustav Wengler vertrat.
69
E r schlug die Augen auf und starrte in einen geöffneten Rachen und auf scharfe Fangzähne. Ein Tierschädel.
Er schreckte hoch, seine Gedanken sortierten sich, dennoch hatte er keine Erklärung, wo er sich befand.
Der Schädel, der von einem Fuchs stammen mochte, lag auf einem Wandregal direkt neben seinem Lager.
Rath schaute sich um. Eine Holzhütte, roh gezimmert. Baumstämme, mit Lehm verfugt, an den meisten Stellen aber mit Tierfellen bedeckt, die hier an der Wand hingen, wie sie anderswo als Bettvorleger auf dem Boden lagen.
Er spürte kalten Schweiß auf seiner Haut, doch eigentlich ging es ihm gut, jetzt, wo die erste Benommenheit des Aufwachens verflogen war. Er fühlte sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr, als habe er nach Monaten endlich einmal wieder ausschlafen können.
Wo zum Teufel bist du hier, Gereon Rath? Und wie bist du hierhergekommen?
Er kramte in seiner Erinnerung, fand dort aber nur Fetzen dunkler Träume.
Der Mann mit dem Bart. Der Höllenhund. Der Elch.
Was davon hatte er geträumt, was erlebt?
Er setzte sich auf. Durch zwei kleine Fenster drang Tageslicht. Sonnenschein. Er hörte Vögel zwitschern da draußen, konnte grüne Zweige erkennen.
In der Hütte standen ein kleiner Tisch und ein einziger Stuhl. Auch der Boden war mit Fellen bedeckt, in einer Ecke des Raumes konnte Rath eine Feuerstelle erkennen, hier waren die Balken von einer dicken rußigen Lehmschicht bedeckt, oben im Dach war eine Öffnung gelassen, durch die nun die Sonne schien. Auf einer Art Rost stand rußiges Blechgeschirr.
Er begann zu ahnen, wer dieses Blockhaus gebaut hatte, und als er sah, was an der Wand gegenüber stand, wurde aus dieser Ahnung Gewissheit. Da stand etwas, das nicht in diese Umgebung passte, obwohl es ebenso roh gezimmert war. Vor allem der Inhalt war es, der dieses Möbel hier zu einem Fremdkörper machte: Literatur. Rath schaute auf ein Bücherregal.
Er hatte die Hütte des Kaubuks erreicht.
Anders allerdings, als er sich das vorgestellt hatte.
Seine Hand fuhr zur Seite, dort wo normalerweise sein Schulterholster hing. Weg. Die Walther PP samt Holster war weg, ebenso sein Jackett, seine Hosen, seine Schuhe und Socken. Er lag hier in Unterwäsche. Zugedeckt mit einem rötlich braunen Fell, das noch ziemlich nach Tier roch.
Sein Lager war nicht sehr hoch, jedenfalls nicht so hoch wie ein normales Bett. Er
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