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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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sich zu verabschieden.
    Charly konnte es nicht fassen. Sie hatten es also tatsächlich gewagt. Papen und seine reaktionären Minister wollten nicht nur den Freistaat Preußen, das einzige Bundesland, das seit dem Krieg durchgehend von Sozialdemokraten regiert worden war, sie wollten auch die Polizei in ihre Gewalt bringen. Und dazu reichte es nicht, den Innenminister in die Wüste zu schicken, da tauschten sie sicherheitshalber gleich die ganze Berliner Polizeispitze aus, den Sozialdemokraten Grzesinski, den Liberalen Weiß und den Zentrumskatholiken Heimannsberg.
    »Damit können die doch nicht durchkommen«, sagte Charly zu Böhm, »wir müssen etwas tun!«
    »Der Polizeipräsident muss nur befehlen, dann stehen mehrere Tausend Mann hinter ihm.«
    »Dann soll er es doch tun, verdammt. Grzesinski lässt sich ja völlig widerstandslos abführen. Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.«
    »Der Polizeipräsident weiß, was er tut. Jeder bewaffnete Widerstand würde womöglich einen Bürgerkrieg zwischen Polizeieinheiten und Reichswehr heraufbeschwören. Dann gäbe es ein Blutvergießen, schlimmer als anno neunzehn.«
    »Einen Bürgerkrieg kann Papen doch nicht wollen. Das kann niemand wollen. Haben wir nicht schon genug Gewalt auf unseren Straßen?«
    »Der Teufel weiß, was Papen will. Demokratie jedenfalls will er nicht.«
    Der schwarze Cutaway und der Zylinder waren in der Tat eine passende Kleidung, wenn Grzesinski der Beerdigung von Kriminalrat Mercier auch hatte fernbleiben müssen: Es war die passende Kleidung für die Beerdigung der preußischen Demokratie.
    Immer mehr Büros öffneten sich, immer mehr Beamte traten auf den Gang und erkannten, was da gerade vor sich ging. Immer mehr drängten sich in den Gängen und strömten ins Treppenhaus, folgten dem Tross in Feldgrau, der ihre Vorgesetzten abführte. Einige Kollegen, vor allem die uniformierten, zeigten ihren Respekt, indem sie den Polizeichefs einen militärischen Gruß darboten und ehrfurchtsvoll salutierten.
    »Hoch die Republik!«, rief plötzlich jemand, und die Gesichter unter den Stahlhelmen zuckten nervös.
    »Hoch die Republik!« Immer mehr Kollegen stimmten in den Ruf mit ein, und auch Charly rief es aus vollem Halse, und sogar Böhm, dem sie so etwas nie zugetraut hätte, stand an ihrer Seite und skandierte. »Hoch die Republik! Hoch unsere Chefs!«
    So hallte es durch die Gänge und durchs Treppenhaus und wurde immer lauter.
    »Hoch die Republik! Hoch unsere Chefs!«
    Die jungen Reichswehrsoldaten schielten immer nervöser nach rechts und links, die Hände an den Gewehren, bereit, sich jederzeit zur Wehr zu setzen. Womöglich rechneten sie damit, dass gleich ein Kriminalbeamter seine Dienstwaffe zog und einfach abdrückte, dass die preußische Polizei diesem Spuk im Berliner Polizeipräsidium ein Ende setzte, zur Not auch mit Gewalt. Was aber niemand tat, dazu waren die Beamten hier eben doch viel zu preußisch: Ohne ausdrücklichen Befehl griff niemand zur Waffe. Aber sie sagten den Putschisten unmissverständlich ihre Meinung.
    Und in diesem Moment, unter den Hochrufen ihrer Kollegen, in die sich auch vereinzelte Rufe nach »Freiheit« mischten, verspürte Charly einen bislang nicht gekannten Stolz auf die Berliner Polizei und auf ihr preußisches Vaterland. Trotz solcher Kerle wie Dettmann, die es natürlich auch gab unter den Kollegen: In diesem Augenblick war sie unendlich stolz darauf, ein Teil dieses Polizeiapparates zu sein, der trotz der zur Schau getragenen Waffengewalt der Reichsregierung in Treue zu seinen demokratischen Spitzenbeamten stand.
    Die Beamten folgten dem Tross durchs Treppenhaus nach unten, auch Charly lief mit. In diesem Augenblick waren ihr Gustav Wengler, Dietrich Aßmann und wie sie alle hießen, völlig egal, sie fühlte sich als Teil des preußischen Polizeiapparates, der dagegen protestierte, dass seine Spitzenbeamten von Reichswehrsoldaten abgeführt wurden wie Verbrecher.
    Unten auf der Alexanderstraße wartete ein Mercedes mit Reichswehr-Kennzeichen, in den Grzesinski zusammen mit dem Reichswehrhauptmann stieg. Heimannsberg und Weiß wurden in einen zweiten und dritten Wagen gesetzt. Wohin die Reise ging, das wusste niemand, irgendwo in Richtung Westen.
    Als die Wagen um die Ecke gebogen waren, schaute Charly hoch an der Backsteinfassade des Polizeipräsidiums. Fast alle Fenster der Burg waren geöffnet, überall standen Beamte und verfolgten das unwürdige Schauspiel, von den Fenstern und auch von

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