Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
schlug das schwere Fell vollends zurück und wollte aufstehen, doch die Beine gehorchten ihm nicht, sie waren zu schwach, er kam nicht nach oben, sondern sackte einfach so weg.
Rath wunderte sich. Sein Kreislauf schien eigentlich ganz normal zu arbeiten, aber seine Beine fühlten sich an wie Gummischläuche. Und verhielten sich auch so beim Versuch aufzustehen. Er nahm alle Kraft zusammen und versuchte es noch einmal, hielt sich dabei mit den Händen fest an einem Balken, der die Hüttenwand zusammenhielt. Plötzlich verspürte er einen Bärenhunger. Und noch mehr Durst.
Ob es in dieser Hütte etwas zu essen gab oder zu trinken?
Wie ein Gelähmter hangelte er sich durch den Raum, fand in einem hölzernen Krug Wasser, roch daran und befand es für gut. Ein schönes Gefühl, wie es nass die Kehle hinunterrann. Seine Muskeln gewöhnten sich wieder daran, ihn zu tragen, doch es kostete größere Anstrengung als gedacht. Er setzte sich auf einen Schemel neben dem Fenster, um Kraft zu schöpfen, und betrachtete das Regal.
Viele Buchrücken kamen ihm bekannt vor, einige Karl Mays standen da und einige Bände Lederstrumpf. Womöglich die gleichen Ausgaben, die er selbst als Junge gelesen hatte. Aber hier standen sie im Bücherregal eines erwachsenen Mannes, zerlesen und abgegriffen. Daneben ein paar neuere Ausgaben: Fritz Steubens Der fliegende Pfeil, Wayne Reids Skalpjäger, Gabriel Ferrys Waldläufer und eine ganze Reihe Sachbücher mit Titeln wie Die Indianer Nordamerikas oder Leben in der Prärie .
Rath stand auf und probierte aus, ob er inzwischen wieder freihändig stehen konnte. Es funktionierte halbwegs, er musste sich wenigstens nicht permanent irgendwo festhalten, um nicht umzukippen. Auf einem Blechteller nahe der Feuerstelle lag ein Stück Fleisch, ein kleines, krummes Bein. Von welchem Tier es stammen mochte, war nicht zu erkennen, aber es war knusprig gebraten, und er hatte Hunger.
Er griff zu der Keule, oder was das auch sein mochte, und biss hinein, riss alles Fleisch, das er lösen konnte, von dem Knochen, nagte ihn mit gebleckten Zähnen blank. Er kam sich vor wie ein Raubtier, so gierig war er auf dieses Fleisch.
Der Geschmack kam ihm halbwegs bekannt vor, ging irgendwo in Richtung Kaninchen. Wie Kaninchen hatte es allerdings nicht ausgesehen. So sah auch der abgenagte Knochen nicht aus.
Er legte ihn zurück auf den Blechteller, der ihn an die Teller erinnerte, von denen sie im Krieg gegessen hatten. Mit vorsichtigen Schritten ging er zur Tür. Er knickte nicht mehr ein, nahm zur Sicherheit aber einen Stock mit hinaus.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Wie lange er geschlafen haben mochte? Mücken umschwirrten ihn, und er vertrieb sie. Gleich neben dem Eingang stand ein gut gefülltes Regenfass, und er trank mit beiden Händen, schüttete sich Wasser ins Gesicht, bis er sich etwas frischer fühlte, nicht mehr so benebelt. Die Hütte war von Bäumen und Sträuchern umgeben, eine perfekte Tarnung. Schon ein paar Schritte reichten, und sie war kaum noch zu erkennen, so dicht stand das Gestrüpp.
Die Landschaft sah hier gar nicht so trostlos aus wie an der Stelle, die der alte Adamek ihm gezeigt hatte. Doch dass es Moor war, das konnte man sehen. Rath tastete sich mit dem Stock voran und stakte schon bald in ein ziemlich tiefes Wasserloch. Er umrundete die ganze Hütte einmal und stellte fest, dass sie auf einer Art Insel stand, von allen Seiten vom Moor umgeben. Es war ihm ein Rätsel, wie Radlewski hierher und wieder fortgelangte. Da musste sich jemand im Moor schon sehr gut auskennen. Besser als der alte Adamek jedenfalls.
Von hier zu fliehen schien wenig aussichtsreich. Jetzt wusste Rath auch, warum der Mann ihn nicht gefesselt hatte.
Aber er hatte ihn auch nicht getötet. Oder hatte er das noch vor?
Rath kehrte in die Hütte zurück und durchsuchte alle Behältnisse, bis er in einer großen Truhe seinen Anzug fand. Ein wenig klamm und unglaublich schmutzig, vor allem die Hose, aber besser, als hier in Unterwäsche herumzulaufen. Er zog die Sachen wieder an, auch seine Socken und Dameraus robuste Wanderschuhe, die das ganze Malheur noch am besten überstanden zu haben schienen.
Er befühlte die Jackettinnentaschen. Sein Zigarettenetui war noch da. Leer. Natürlich. Er klappte es wieder zu. Auch die kleine Leselupe war noch in seiner Tasche, ein paar Overstolz wären ihm allerdings lieber gewesen.
Er setzte sich wieder auf den Schemel und betrachtete die Bücher. Schließlich nahm er
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