Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
setzte sich unwillkürlich noch aufrechter hin, als der Mann seine Marke zeigte. Jetzt war er hellwach. Und nervös. Was wollten die denn jetzt noch von ihm?
Der Wachmann schloss die Zelle wieder ab.
»Herr Kommissar!«
»Ich rufe Sie dann, wenn ich fertig bin.«
Der Anzugmann setzte sich neben Aßmann auf die Pritsche.
»Was wollen Sie denn noch? Ihre Kollegen haben mich doch schon lange genug in die Mangel genommen, oben.«
»Das war die Tagschicht«, sagte der Mann und grinste. »Ich bin die Nachtschicht.«
Das konnte ja heiter werden! Bearbeiteten die ihn jetzt schichtweise? Scheißbullen.
»Aber rauchen darf man doch, oder?«
»Bitte sehr.«
Der Bulle machte eine einladende Handbewegung. Aßmann fingerte die letzte Zigarette aus seinem Etui, obwohl er sich die eigentlich für morgen früh hatte aufsparen wollen, und zündete sie an. Der Kommissar sagte nichts, er saß nur da und hatte die Mundwinkel immer noch leicht nach oben gezogen, als freue er sich über sein eigenes Grinsen. Machte einen selten debilen Eindruck, der Kerl.
Auf die Fragen war Aßmann schon gespannt. Dem würde er noch weniger erzählen als dem bulligen Oberkommissar oder dem transusigen Zollinspektor. Nachtschicht, ha! Da konnten sie lange warten, mit dieser Taktik erreichten die gar nichts. Dietrich Aßmann würde erst etwas sagen, wenn er wusste, woran er in dieser Geschichte war. Wenn er mit seinem neuen Anwalt gesprochen hatte. Und mit Gustav Wengler.
Dann ging das Licht wieder aus, und es war so stockfinster wie zuvor. Nur die Zigarettenglut leuchtete wie ein Glühwürmchen in der Dunkelheit und warf ein rötliches Licht auf den seltsamen Kommissar, der immer noch keine einzige Frage gestellt hatte. Wollte der ihn durch sein Schweigen fertigmachen? Aßmann schüttelte den Kopf. Er nahm noch einen tiefen Lungenzug, genüsslich, schließlich war es für heute Abend die letzte Zigarette, und als er dann wieder zur Seite schaute, wunderte er sich.
Das Gesicht des Mannes, der eben noch neben ihm auf der Pritsche gesessen hatte, war nicht mehr da.
73
E s roch nach Gras. Feuchtem Gras. Kühle auf der Haut.
In Stein gemeißelte Buchstaben.
Eine Schnecke, die im fahlen Licht fast schwarz wirkte und auf dem Stein klebte.
Rath schaute nach oben und erkannte einen Grabstein.
Einen Moment glaubte er, sich in einem Albtraum zu befinden und gleich womöglich seinen eigenen Namen zu lesen oder so etwas, aber dann wusste er, dass es die Wirklichkeit war, denn er spürte ein Ziehen im Nacken, als er sich aufrichtete.
Und auf dem Grabstein stand ein anderer Name.
Gefr. Szudarsky, Res. Inf. R. 49
Rath kannte solche Abkürzungen. Das war schon ein paar Jahre her, da hatte er so etwas gelernt. Reserve-Infanterieregiment 49. Ein toter Gefreiter lag hier, der anno vierzehn für Kaiser und Vaterland gekämpft hatte.
Rath schaute sich um. Weitere Gräber, in Reih und Glied, selbst im Tod hielten die Preußen die Marschordnung ein. Das Mondlicht leuchtete hell auf die Steine.
Und plötzlich wusste Rath, wo er sich befand!
Der Heldenfriedhof bei Markowsken!
Er las weitere Namen. Alle mit demselben Todesjahr. 1914. Viele klangen polnisch. Doch waren es nicht nur preußische Kriegsgräber, auch russische Soldaten waren hier bestattet, und auch von denen hatten einige polnisch klingende Namen.
Die Masuren hatten für Preußen und den Kaiser ihr Leben gegeben, die Masowier für Russisch-Polen und den Zaren.
Was für einen Unterschied es doch machen konnte, auf welcher Seite der Grenze man geboren war.
Und dann auch wieder keinen – denn gestorben waren sie letztendlich alle, die sie hier lagen, ganz gleich für welche Seite.
Rath stand auf und musste sich zunächst am Grabstein des preußischen Gefreiten Szudarsky festhalten, damit ihm die Knie nicht wegknickten. Radlewski hatte ihm irgendetwas Betäubendes eingeflößt. Er konnte sich dunkel daran erinnern, durch den Wald gestolpert zu sein, kaum bei Sinnen, angetrieben durch den Kaubuk und seinen Hund. Nach einer Weile merkte er, wie die Kraft langsam in seine Beinen zurückkehrte.
Er schaute an sich hinab. Der graue Anzug, der reif war für die Mülltonne. Rath betastete die linke Seite. Sein Schulterholster, er hatte es ihm wieder angelegt, mitsamt Dienstpistole. Selbst seine Brieftasche fand Rath wieder. Er schaute hinein. Kein Pfennig fehlte, nicht einmal sein Dienstausweis. Artur Radlewski und sein verfluchtes Moor hatten ihn genauso wieder ausgespuckt, wie sie ihn um
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