Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Putsch. Dann hat Papen mit Hindenburgs Gnaden das demokratische Preußen mit einem Handstreich kassiert.« Sie schaute sich um. Nicht alle Kollegen nickten zu ihren Worten. »Unser neuer Chef jedenfalls hat sich bislang noch keinen Ruf als Demokrat erworben.«
»Wichtiger ist auch, denke ich, dass er ein guter Polizeichef ist.« Arthur Nebe war das, der sich mit ruhiger Stimme zu Wort gemeldet hatte. Er lächelte Charly freundlich an. »Diese Behörde hatte genug Demokraten an ihrer Spitze, die sich dann aber leider Gottes als schlechte Kriminalisten entpuppt haben.«
Charly wollte etwas erwidern, doch Böhm kam ihr zuvor. »Dazu zählen Sie ja wohl hoffentlich nicht Grzesinski und Doktor Weiß, mein lieber Nebe«, meinte der Oberkommissar.
»Ich sage nur, dass fachliche Kompetenz in meinen Augen wichtiger ist als politische Gesinnung.«
»Eigentlich hätte ich gerade von Ihnen etwas mehr Loyalität gegenüber unseren alten Chefs erwartet«, sagte Böhm. »Doktor Weiß hat doch gerade Sie derart protegiert, dass Sie ihm bis an Ihr Lebensende dafür dankbar sein müssten.«
»Protektion, Herr Oberkommissar, verdient man sich unter anderem auch durch Leistung!«
»Meine Herren, meine Herren«, fuhr Gennat dazwischen, »wir sollten die politischen Streitereien in dieser Behörde unterlassen. Jedem steht seine politische Ansicht frei, doch sollten wir diese nicht im Dienst diskutieren. Die fachlichen Qualitäten von Doktor Melcher sind unbestritten. Er hat das Polizeipräsidium Essen seit dem Kriege vorbildlich geführt.« Gennat schaute Böhm und Charly streng an, bevor er weitersprach. »Und die demokratische Gesinnung eines Mannes, der der Partei Stresemanns angehört, steht ja nun wohl auch außer Frage.«
Da war Charly sich allerdings nicht so sicher, allein dass Kurt Melcher sich für diesen Putsch zur Verfügung gestellt hatte, sprach in ihren Augen gegen den früheren Essener Polizeipräsidenten, für den der Sprung nach Berlin gewiss auch einen Sprung in seiner Karriere bedeutete. Aber sie sagte nichts mehr, und auch Böhm schwieg jetzt. Gennat hatte recht, solche Dinge sollten sie nicht hier diskutieren, das erzeugte nur Unfrieden und würde keines der Probleme lösen, die der gestrige Tag gebracht hatte.
»Ich erwarte von Ihnen …«, fuhr der Buddha fort, doch dann flog die Tür auf, und sie sollten nicht mehr erfahren, was der Kriminalrat von ihnen erwartete.
In der Tür stand Kommissaranwärter Steinke und machte einen aufgeregten Eindruck.
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kriminalrat«, sagte er. Der Mann wirkte atemlos, als habe er die Strecke vom Büro der Mordbereitschaft zum kleinen Konferenzsaal im Spurttempo zurückgelegt. »Aber es ist etwas Schreckliches passiert, das Sie wissen sollten.«
»Na was denn, Mann! Rücken Sie doch raus mit der Sprache«, sagte Gennat, als Steinke wieder eine Pause machte, um erst mal nach Luft zu schnappen.
»Es ist … Der Häftling Aßmann … im Polizeigewahrsam …«
»Aßmann? Das ist mein Häftling«, meinte Böhm, »jetzt sagen Sie bloß nicht, der Mann ist entflohen! Oder von irgendeinem Rechtsverdreher rausgepaukt worden!«
»Nein, nein«, sagte Steinke. »Schlimmer. Ich fürchte, der Häftling Aßmann ist tot.«
75
I m Salzburger Hof waren sie schon dabei, das Frühstück abzuräumen. Hella Rickert machte große Augen, als sie den Kommissar aus Berlin erblickte, sagte aber nichts, sondern drehte sich mit dem Tablett, auf das sie gerade schmutziges Geschirr gestapelt hatte, zur Küchentür und wandte ihm ihren hübschen Rücken zu.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte Rath und ging zur Rezeption hinüber. Niemand da. Er schlug so fest auf die Glocke, dass es klang wie beim Haut den Lukas .
Rath war bereit, es zur Not mit der gesamten Familie Rickert aufzunehmen, er fühlte sich so ausgeruht wie seit ewigen Zeiten nicht mehr. Rammoser hatte ihn schlafen lassen und erst gegen neun geweckt. Nach einem Bad, einer gründlichen Rasur und einem ordentlichen Frühstück mit Kaffee und ohne Eichhörnchenspießbraten war er sich wieder halbwegs wie ein Mensch vorgekommen. Sein grauer Anzug taugte nicht einmal mehr zum Schuheputzen, Rammoser hatte ihm mit einem Exemplar aus seinem Kleiderschrank ausgeholfen; die Hose war zwar ein bisschen zu kurz, und die Jacke hatte Flicken auf den Ärmeln, ansonsten passten die Sachen tadellos, ließen Rath allerdings aussehen wie einen Dorflehrer.
Ein Dorflehrer, der gerade von einem Schulausflug
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