Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Sie von seiner Unschuld überzeugen können?«
Rath zuckte die Achseln. »Die meiste Zeit lag ich im Fieber und war nicht bei Bewusstsein. Und als wir dann endlich reden konnten, verlief unser Gespräch nicht eben freundlich. Ich fürchte, ich habe seine Gastfreundschaft etwas überstrapaziert.« Er steckte sich noch eine Zigarette an. »Er hat mich mit irgendeinem Gebräu betäubt«, sagte er. »Ich war wie weggetreten, kann mich dunkel erinnern, dass ich mit ihm durch die Nacht gelaufen bin. Und dann bin ich auf dem Heldenfriedhof drüben in Markowsken wieder zu mir gekommen.«
»Und nun trommeln Sie sämtliche Polizeikräfte im Kreis Oletzko zusammen, um ihn aus seinem Sumpfversteck zu holen?«
Rath schüttelte den Kopf. »Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Erstens bin ich nicht nachtragend. Zweitens hat Radlewski noch etwas gut bei mir. Und drittens bin ich mir sicher, dass er nicht hinter der Mordserie steckt, die ich aufzuklären habe.«
Rammoser nickte. Zufrieden, so wie ein Lehrer nickt, wenn sein Lieblingsschüler die richtige Antwort gegeben hat.
»Und Sie glauben, der alte Adamek hat Sie mit Absicht ins Moor gelockt?«
Rath nickte. »Sonst hätte er ja wohl nach mir gesucht. Und nicht irgendwelche Lügen verbreitet, ich sei zurück nach Berlin gefahren.«
»Unterstellen Sie ihm mal keine Lüge. Ich weiß nicht, ob die Gerüchte bei Pritzkus von ihm stammen.«
»Aber dagegen gesagt hat er bestimmt auch nichts.«
»Adamek redet eigentlich nie viel, wenn er bei Pritzkus sitzt. Das haben Sie doch selbst erlebt.« Rammoser schüttelte den Kopf. »Warum sollte er so etwas tun?«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Rath. »Vielleicht, weil er noch eine Rechnung mit mir offen hat.«
»Nein, da schätzen Sie den Alten falsch ein.«
»Wir werden sehen. Bin jedenfalls gespannt, was er mir zu erzählen hat.«
74
D ie morgendliche Besprechung in der Inspektion A glich an diesem Donnerstagmorgen eher einer Trauerfeier. Charly sah fast nur betretene Gesichter.
Ernst Gennat erschien später als gewohnt. Man munkelte, dass die neue Polizeiführung die Inspektions- und Dezernatsleiter heute Morgen bereits zum Rapport bestellt hatte. Dem Kriminalrat war nicht anzumerken, was er denken mochte. Er trat nach vorne aufs Podest und die Gespräche und das Geflüster verstummten.
»Wir wissen alle, dass sich in unserer Behörde gestern entscheidende Dinge geändert haben«, begann der Buddha in seiner bekannt ruhigen Art. »Gleichwohl erwarte ich von Ihnen, dass Sie Ihrer Arbeit heute und in den nächsten Tagen genauso gewissenhaft nachgehen wie an jedem anderen Tag. Folgen Sie wie gehabt den Befehlen Ihrer Vorgesetzten und machen Sie Ihre Arbeit.«
»Mit Verlaub, Herr Kriminalrat«, meldete sich Wilhelm Böhm, »aber da genau sehe ich das Problem: Wer sind unsere Vorgesetzten? Ist es Herr Grzesinski oder ist es Herr Melcher?«
»Bis auf Weiteres ist es Doktor Melcher.«
»Was heißt: Bis auf Weiteres?«
»Bis die ganze Angelegenheit gerichtlich untersucht ist«, sagte Gennat. »Diese Dinge dürfen uns nicht davon abhalten, unsere Arbeit zu erledigen. Wir haben weiß Gott genügend Todesfallermittlungen, die der Aufklärung harren.«
Die Beamten nickten. Begeistert wirkten sie nicht.
»Nun lassense man Ihre Mundwinkel nicht so hängen«, sagte der Buddha. »Kurt Melcher ist bestimmt auch kein schlechter Polizeipräsident. In Essen genießt er jedenfalls einen hervorragenden Ruf.«
»Das mag sein, Herr Kriminalrat.« Wilhelm Böhm ließ nicht locker. »Aber mir und nicht wenigen Kollegen hier geht es um die Art und Weise, wie Doktor Melcher in sein Amt eingesetzt worden ist.«
»Sie haben recht«, sagte Gennat. »Wir wissen nicht, ob es beim personellen Wechsel an der Spitze unserer Behörde mit rechten Dingen zugegangen ist oder besser gesagt: rechtlich einwandfrei. Aber wir leben immer noch in einem Rechtsstaat, und diese Fragen werden die Gerichte klären. Und so lange machen wir in Ruhe weiter unsere Arbeit.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Charly, und alle schauten sie an. Sie war selbst überrascht von ihrem Mut, in dieser Männerrunde die Stimme zu erheben, aber sie konnte nicht länger schweigen. »Ich meine, ich bin mir nicht so sicher, ob wir wirklich noch in einem Rechtsstaat leben.« Sie hob das Berliner Tageblatt in die Höhe, das sie sich unten auf dem Alex besorgt hatte. »Wenn es stimmt, was in der Zeitung steht, dann war das, was wir gestern erlebt haben, ein eiskalter
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