Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Zigarette an. Rath tastete nach seinen Overstolz, die schien er zu Hause liegen gelassen zu haben. Er schielte auf die blecherne Zigarettendose auf dem Schreibtisch, doch der Doktor kam nicht auf die Idee, ihm eine Manoli anzubieten, er stand auf und führte seinen Gast zu einem Rollwagen, auf dem sich unter einer Baumwolldecke die Konturen eines menschlichen Körpers abzeichneten.
»Schauen Sie«, sagte Karthaus und zog das Laken mit einem schnellen, fast schon brutalen Ruck beiseite, »das müssen Sie sich ansehen.«
Die Leiche hatte immer noch den entsetzten Blick von gestern Morgen, und sie war noch blasser geworden, die Partie um den Mund noch blauer. Der Doktor fasste den wachsbleichen Kopf am Kinn und drehte ihn zur Seite. Der Zeigefinger in seinem weißen Handschuh zeigte auf eine Stelle am Hals, an der sich ein kleiner bläulicher Punkt gebildet hatte.
»Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Karthaus, und Rath nickte. Für einen Moment war er versucht, sich über den Hals zu beugen, um besser sehen zu können, dann aber folgte er dem Rat seines Magens und beschloss, hauptsächlich den Worten des Doktors zu vertrauen.
»Eine Einstichstelle«, fuhr Karthaus fort. »Stammt von einer Injektion. Intravenös.«
»Was für eine Injektion?«
»Von seinem Arzt hat er sie nicht bekommen«, sagte Karthaus, »das habe ich schon nachgeprüft. Vielleicht war er Morphinist.« Der Doktor zog an seiner Zigarette. »Das Spritzen in die Halsvene ist allerdings nicht gerade üblich bei Morphinisten. Für eine Selbstinjektion bräuchte es da schon einen Spiegel. Zudem … wenn unser Mann Morphinist wäre, hätte man weitere Einstichstellen finden müssen. Und das hier ist die einzige.«
Rath wurde hellhörig. »Wollen Sie damit sagen, jemand anderes hat ihm diese Spritze verabreicht?«
Karthaus nickte. »Alles deutet darauf hin. Wir haben also doch Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung.«
»Und was war das? Eine Giftspritze?«
»Welches Mittel ihm verabreicht wurde, das wird hoffentlich die Blutanalyse ergeben.«
»Ist der Mann also doch nicht ertrunken!« Rath legte es nicht immer darauf an, recht zu behalten, aber in diesem Fall genoss er es.
»So genau kann man das nicht sagen«, meinte Karthaus.
»Ich denke, Sie haben die Leiche obduziert?«
Karthaus nickte. »Und der Mann hatte auch Wasser in den Lungen. So viel, dass es unmöglich post mortem eingedrungen sein kann. So weit also alles typisch für einen Ertrinkungstod. Allerdings war die Wasseraspiration längst nicht so extrem, dass sie unweigerlich zu einer tödlichen Hypoxie hätte führen müssen.«
»Reden Sie Deutsch, Doktor, ich bin kein Mediziner. Und habe auch nur das kleine Latinum.«
»Hypoxie stammt aus dem Griechischen. Meint Sauerstoffmangel. Hypoxie infolge extremer Wasseraspiration, das nennt man auf Deutsch gemeinhin Ertrinken.« Karthaus guckte Rath an wie ein strenger Lehrer. »Ich habe allerdings den Verdacht, dass unser Mann zwar zu ertrinken drohte, aber vorher an einer Atemlähmung gestorben ist.«
»Wie meinen Sie das? Ist er nun ertrunken oder nicht?«
»Er ist ein bisschen ertrunken. Er hat definitiv Wasser eingeatmet, eine sehr unangenehme Erfahrung. Aber gestorben ist er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht daran. Oder anders ausgedrückt: Bevor er daran sterben konnte, hat seine Atmung ausgesetzt.«
»Weil man ihm ein Gift gespritzt hat …«
Karthaus zuckte die Achseln.
»Aber Sie gehen definitiv von Mord aus.«
»Von Fremdeinwirkung.«
»Da steh ich nun, ich armer Tor …«
»Na, Ihren Goethe kennen Sie wenigstens.«
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich hab sogar Abitur.«
Karthaus nickte anerkennend. »Dann haben Sie bestimmt auch gelernt, sich in Geduld zu üben. Wenn wir das Ergebnis der Blutanalyse haben, kennen wir auch die Todesursache, ich möchte beinah darauf wetten. Eins jedenfalls kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Wir haben es hier mit einem sehr merkwürdigen Todesfall zu tun.«
Rath schaute sich die Leiche an, das Entsetzen in ihrem Gesicht. Wer hatte etwas gegen Herbert Lamkau gehabt? Und warum hatte derjenige versucht, ihn zu ertränken, obwohl er ihm schon eine Giftspritze injiziert hatte?
»Vielen Dank, Doktor«, sagte er. »Wenn Sie mehr wissen, unterrichten Sie mich doch bitte zeitnah.«
Karthaus nickte.
Rath war schon an der Tür, dann drehte er sich noch einmal um. »Ach«, sagte er, »eine Frage noch, Doktor …«
Karthaus zog die Augenbrauen hoch.
»Sie sind doch Arzt … Haben Sie hier
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