Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Regierung.«
»Meinen Sie, Wahlen ändern noch etwas?«, fragte Charly und lächelte, als sie sein Gesicht sah. »Keine Angst. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Natürlich gehe ich wählen. Wenn ich sonst schon nicht mehr für die Republik tun konnte.«
»Sie sollten dieses Land nicht zu früh aufgeben.«
Charly nickte.
Weiß streichelte Kirie, die gerade an seinem linken Schuh schnupperte. »Ist das Ihr Hund?«
»Ich … Äh, der Hund gehört Kommissar Rath. Ich passe auf ihn auf, solange Kommissar Rath in Ostpreußen ist.«
»Rath ist noch nicht wieder zurück?«
»Eher schon wieder weg. Wenn ich es richtig verstehe, ist Kommissar Rath dem Mordverdächtigen auf der Spur, aber ehrlich gesagt, weiß ich es nicht so genau. Ich arbeite seit einer Woche nicht mehr in der Mordinspektion.«
Weiß schaute sie so an, als wundere er sich, dass sie dennoch den Hund des Kommissars ausführe. Einen Moment überlegte Charly, dem Vize von der Verlobung zu erzählen, doch erschien ihr das doch unpassend, hier mitten auf dem Gehweg.
»Sie wohnen hier?«, fragte sie und zeigte auf das Haus, aus dem Weiß gekommen war.
»Noch nicht. Aber wir werden wohl hier einziehen, meine Familie und ich. Die Dienstwohnung im Polizeiamt Charlottenburg müssen wir in ein paar Wochen räumen.«
»Verstehe.« Charly spürte mit einem Mal eine große Traurigkeit. »Dann ist es also endgültig. Ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst, meine ich.«
»Nichts ist endgültig, Fräulein Ritter. Ich hoffe, schon bald wieder meinen Schreibtisch am Alex einnehmen zu können. Wenn der Staatsgerichtshof entschieden hat. Oder die neue Reichsregierung.«
»Wenn es denn eine neue Regierung gibt. Und die nicht schlimmer ist als die alte.«
98
A ls Rath endlich in Treuburg ankam, in einem zerknitterten Anzug und mit knurrendem Magen, war es schon fast Mittag.
Er war dann doch rechts rangefahren, kurz vor Allenstein, und hatte den Buick in einen Waldweg gestellt. Die Augen waren ihm zugefallen, es ging einfach nicht mehr. Als er wach wurde, hatte es bereits gedämmert. Etwas Wasser aus einem nahen Bach hatte ihn wieder frisch gemacht, und er war weitergefahren. Je näher er Treuburg kam, desto mehr Leute waren unterwegs. Für Autos waren die masurischen Alleen nicht gedacht, immer wieder musste er bremsen, weil ein Pferdefuhrwerk die Straße entlangzockelte und den Weg versperrte. Manchmal auch eine Fußgängergruppe, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Die Leute glotzten auf den Buick, doch es dauerte immer eine ganze Weile, ehe sie die Straße frei machten und er passieren könnte.
Die Masuren waren auf dem Weg zur Kirche und zum Wahllokal. Fast alle Städte und Dörfer, durch die er kam, hatten sich zum Wahltag herausgeputzt, die Leute hatten Fahnen zum Zeichen ihrer politischen Gesinnung aus den Fenstern gehängt. Viel zu viele Hakenkreuze, fand Rath, viel zu viel Schwarz-Weiß-Rot und viel zu wenig Schwarz-Rot-Gold. Die Reichstagswahlen ließen, zumindest in Ostpreußen, nichts Gutes ahnen.
Er kam von Lyck und konnte den Treuburger Wasserturm bereits sehen, doch bevor er in die Stadt hineinfuhr, bog er links ab auf die Allee, die zur Luisenhöhe hinaufführte.
Im Gutshaus wunderte man sich, ihn wiederzusehen. Ja, der Herr Direktor sei wieder zurückgekehrt, gestern Abend bereits, im Augenblick aber leider nicht zu Hause. Nach dem Kirchgang sei er gleich zur Wahl gegangen und habe noch wichtige Dinge in der Stadt zu erledigen.
Wann man ihn denn zurückerwarte.
Achselzucken.
»Ich muss Herrn Wengler finden, es ist wichtig! Es geht um Leben und Tod.«
Der Diener schaute Rath an, als habe er noch nie einen derartigen Schwachsinn gehört.
»Soso«, sagte er, »ich werde es dem Herrn Direktor ausrichten.«
»Dann kann es zu spät sein. Sagen Sie mir einfach, wo ich ihn finde.«
»In der Stadt. Mehr weiß ich auch nicht. Versuchen Sie es mal am Marktplatz. Dort ist das Wahllokal des Herrn Direktors.«
Auch in Treuburg hingen Fahnen aus dem Fenster. Viel Schwarz-Weiß-Rot, dazwischen immer wieder Hakenkreuze. Auch ein paar schwarz-rot-goldene waren zu sehen, nur die Kommunisten hatten keine Flagge gezeigt. Oder die Nazis hatten deren rote Fahnen schon kassiert und irgendwo verbrannt.
Die Mädchenschule auf dem Marktplatz war zum Wahllokal umfunktioniert. Vor dem Eingang standen ein paar von Fabecks SA – Jungs, die braunen Hemden frisch gebügelt, die Scheitel kerzengerade gezogen. Sie erkannten den Kommissar aus Berlin und warfen
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