Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
gibt Wichtigeres.«
Und bevor Böhm etwas antworten konnte, war Rath schon aus dem Büro gestürmt und die Treppe hinuntergelaufen.
Das Hm des Oberkommissars nahm er einfach mal als Zustimmung. Er durfte Böhm nur keine Gelegenheit geben, sich noch einmal zu äußern. Dann hätte der seinen Kommissar bestimmt noch zurückgepfiffen.
Den Buick hatte Rath gestern erst vollgetankt, im Portemonnaie lagen noch über hundert Mark, das sollte reichen. Rath steuerte den Wagen auf die Kaiserstraße und dann auf die Frankfurter Allee. Bis Lichtenberg war der Verkehr noch etwas dichter, doch hinter der S-Bahn-Brücke konnte er Gas geben.
Am liebsten hätte er Charly mitgenommen, und vielleicht wäre sie sogar mitgekommen, obwohl sie normalerweise immer versuchte, ihm seine Schnapsideen auszureden.
Aber die war mit ihrer Freundin am Tauentzien unterwegs, ein bisschen Geld unter die Leute bringen.
Wie sollte er die jetzt erreichen?
Scheiß drauf!
Er hatte keine andere Wahl. Jedenfalls fühlte er sich so. Er musste tun, was zu tun war. Und er musste es schnell tun, mit dem Buick würde er ungefähr fünfzehn Stunden brauchen, wenn er gut durchkäme. Und spätestens morgen zur Wahl würde Gustav Wengler wieder in Treuburg sein, da war er sich sicher. Und dann wollte er vor Ort sein.
Und vielleicht war es ohnehin besser, ohne Charly nach Masuren zu fahren – wenn er an Hella Rickert dachte und daran, dass die beiden sich dort möglicherweise über den Weg laufen könnten.
Er gab ordentlich Gas und brauchte dennoch fast fünf Stunden bis zur Grenze. In Schneidemühl, der letzten deutschen Stadt vor dem Korridor, fand er eine Tankstelle. An der Wand des Kassenhäuschens hing ein Münzfernsprecher. Während der Tankwart sich um den Wagen kümmerte, ging Rath hinüber.
Es war schon fast acht, natürlich war sie längst zu Hause. Die Verbindung war nicht gut, Charlys Stimme kratzte im Hörer.
»Gereon? Wo bleibst du denn? Überstunden?«
»Nein.« Er beschloss, es kurz und knapp zu machen. Die Wahrheit, ohne groß drum herumzureden. »Ich bin hier an einer Tankstelle«, sagte er. »In Schneidemühl.«
»Wie?«
»In Schneidemühl. Polnische Grenze.«
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung verhieß nichts Gutes. Charly betonte jedes einzelne Wort, als sie schließlich ihre Frage stellte, und bei jedem Wort wurde sie lauter.
»Was. Machst. Du. In. Schneidemühl?!«
»Beruhige dich. Es ist wegen Polakowski. Ich weiß, wo er steckt.«
»Und leistest dir wieder eine Extratour? Gereon, wolltest du nicht …«
»Keine Extratour, Böhm weiß Bescheid.«
Sie war sprachlos. Schön.
»Mach dir keine Sorgen, Charly. Ich muss Schluss machen, das Geld ist gleich durch. Ich liebe dich.«
Er legte auf.
Bis zur Grenze war es nicht weit. Er schien nicht der Einzige zu sein, der übers Wochenende nach Ostpreußen wollte. Vor dem Kontrollpunkt hatte sich eine lange Schlange gebildet. Gennat hatte nicht übertrieben. Erst einmal brauchte er ein Transitvisum, das ihn eine Mark sechzig kostete und viel Geduld, bis es endlich abgestempelt und unterschrieben war. Ebenso viel Zeit brauchte es, bis die polnischen Grenzbeamten, die ihren Beruf offensichtlich sehr ernst nahmen, sein Auto durchsucht hatten. Sie fanden sogar einen von Kiries Gummibällen, den er schon länger vermisst hatte. Ärgerlicher war es da schon, dass er seine Dienstwaffe nicht mit auf den Transit nehmen durfte. Die Walther wurde konfisziert, und Rath bekam eine Quittung für seine Pistole, gegen deren Vorlage er sich seine Waffe auf der Rückfahrt wieder abholen könne, so bedeutete man ihm. Und als das alles endlich erledigt war, musste Rath noch eine Straßennutzungsgebühr von fünf Zloty berappen. Reichsmark nahmen die Grenzer nicht, er musste eine Wechselstube ansteuern, die wiederum Gebühren nahm, die an Wucher grenzten. Jedenfalls bereute Rath es inzwischen schon, einfach so losgefahren zu sein mit dem Auto; die Fahrt im Zug war angenehmer gewesen, selbst den Flug hatte er trotz seiner Flugangst besser ertragen können. Aber nun war der Papierkram erledigt, nun gab es kein Zurück. Vierundzwanzig Stunden durfte er sich laut Transitvisum Zeit lassen, um den Korridor zu durchqueren, er schaffte es in zweieinhalb. Bromberg und Thorn waren beides schöne Städte, doch er hielt nicht an, nicht einmal zum Pinkeln, er wollte nur so schnell wie möglich Deutsch Eylau erreichen und damit wieder preußischen Boden.
Die Feindseligkeit, mit der ihm die polnischen
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