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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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nicht mehr zu sehen. Doktor Weiß stieg aufs Podium und trat ans Rednerpult. Augenblicklich verebbte das Getuschel im Saal zu einem leisen Murmeln, doch der Polizeivizepräsident wartete noch, bis auch das letzte Räuspern verhallt war, bevor er begann.
    »Bevor wir zum eigentlichen, erfreulichen Zweck unseres Zusammentreffens kommen, lassen Sie mich ein paar Worte zur aktuellen Situation sagen«, begann er und schaute ernst in die Runde. Wegen der dicken Brillengläser hatte man immer den Eindruck, Bernhard Weiß schaue einem direkt in die Augen. »Denn diese Situation hat sich seit exakt zwei Wochen eklatant verschärft: seitdem SA und SS wieder marschieren und ihre Uniformen zur Schau tragen dürfen. Die Folgen: Allein an diesem Wochenende haben politische Auseinandersetzungen im Wedding und in Moabit fünf Verletzte und einen Toten gefordert – die Bilanz eines Wochenendes allein in Berlin.«
    »Ist der Tote nicht ein SA – Mann, den die Roten abgeknallt haben?«, flüsterte ein Kollege ganz in Raths Nähe, vorsichtshalber so leise, dass der Vize es unmöglich hören konnte.
    »Es gab gute Gründe für das Uniformverbot«, fuhr Weiß in seiner Ansprache fort. »Ohne Uniform erscheinen die SA – Männer als das, was sie sind: brutale Schlägerbanden. In ihren Uniformen aber fühlen sie sich nicht wie Kriminelle, maßen sich im Gegenteil sogar an, wie Polizisten aufzutreten. Es kommt immer häufiger vor, dass SA – Männer sich erdreisten, Hausdurchsuchungen in Kommunistenwohnungen durchzuführen. Aus Friedrichshain wird gemeldet, dass ein SA – Trupp eine Eisdiele stürmte und alle Reichsbannerleute mitnehmen wollte – als handele es sich um eine Polizeirazzia. Glücklicherweise konnte das Einschreiten der Kollegen dieses Vorhaben verhindern. Solches Verhalten, meine Damen, meine Herren«, sagte Weiß und warf beim Wort Damen einen freundlichen Blick in die erste Reihe, wahrscheinlich dorthin, wo Charly und ihre Kollegin saßen, »ist nichts anderes als Amtsanmaßung. Ich bitte daher Sie und alle Kollegen, bei Ihrer Arbeit besondere Aufmerksamkeit walten zu lassen und entsprechende Vorfälle möglichst schon im Keim zu ersticken. Wir dürfen dem Mob nicht die Straße überlassen, dem braunen nicht und auch nicht dem roten.«
    Weiß machte eine Pause, und ein paar Kollegen fingen tatsächlich an zu klatschen, doch erstarb der Applaus schnell wieder, was irgendwie peinlicher wirkte, als wenn überhaupt niemand applaudiert hätte.
    »Leider«, fuhr der Vize fort, »hat die neue Reichsregierung mit ihrer Politik die Nationalsozialisten zu solchen Aktionen geradezu ermutigt. Seit zwei Wochen, so hart muss man das leider sagen, seit der Aufhebung des SA – Verbots, ist die Sicherheit in unseren Straßen wieder auf das Höchste gefährdet!«
    »Und ich dachte immer, die Polizei ist nicht politisch«, murrte ein Beamter, den Rath nicht kannte, in der Reihe vor ihm. »Da hängt sich aber jemand für meinen Geschmack ein bisschen weit aus dem Fenster. Immerhin arbeiten wir für diese Regierung, die da gerade beschimpft wird.«
    »Unser oberster Dienstherr ist nicht das Deutsche Reich, sondern der Freistaat Preußen«, zischte der Mann hinter dem Meckerfritzen, »und dass die Reichsregierung nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, das steht ja wohl fest.«
    »Die ist aber wenigstens noch eine Regierung. Preußen hat doch überhaupt gar keine mehr, jedenfalls keine funktionierende.«
    »Ach, halten Sie doch den Mund!«
    »Soll ich Ihnen mal zeigen, wer hier gleich den Mund hält?«
    Bevor der Disput eskalieren konnte, hatten zwei Kollegen eingegriffen und die Streithähne auseinandergezogen, doch da hatten die Unruhe und das Grummeln in den hinteren Reihen auch schon Weiß’ Aufmerksamkeit erregt. Der Vize ließ seinen strengen Blick durch den Saal wandern, und alle, die von ihm erfasst wurden oder glaubten, erfasst worden zu sein, hörten augenblicklich auf zu murmeln. Auch die beiden Beamten, die sich eben noch beinah geprügelt hatten, trugen ihre Feindseligkeiten nur noch mit ein paar bösen Blicken aus.
    Als alles wieder still war, fuhr Weiß fort. »Kommen wir nun zu etwas Erfreulicherem, zum eigentlichen Zweck unserer Zusammenkunft. Ich möchte Sie bitten, die neuen Kommissaranwärter zu begrüßen, die fortan in Ihren Reihen Dienst tun.«
    Er griff zu einer Liste und las die Namen der Neuen vor, und jeder, der aufgerufen wurde, kam brav nach vorn, bis sie alle dort standen, die Novizen, ordentlich in Reih und

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