Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
nur dessen Sekretärin. Ebenso erfolglos war Lange aus Tempelhof zurückgekehrt: Die Witwe hatte weder sagen können, was es mit den Todesanzeigen auf sich hatte, noch sagte ihr der Name Wawerka etwas, ebenso wenig der von August Simoneit.
Daran würde sich auch Charly noch gewöhnen müssen: Ein Großteil der Arbeit, die ein Kriminalbeamter leistete, war nun einmal für die Katz.
Schließlich hatte Rath seine Leute in den Feierabend geschickt, hatte Charly noch vor dem Bahnhof abgefangen und sie zu Aschinger eingeladen. Es war ihm tatsächlich vorgekommen, als müsse er sie einfangen, als wäre sie sonst einfach in die Spenerstraße gefahren statt nach Charlottenburg, als habe sie ihre Verlobung völlig vergessen. Und das schon nach einem Tag.
Selbst auf dem Weg zu Aschinger hatte sie nur über die Arbeit geredet. Als gehe sie mit ihrem Chef essen und nicht mit ihrem Verlobten.
Und jetzt saßen sie hier am Fenster, der Hund hatte sich unter dem Tisch zusammengerollt, und schauten auf die Ruinen des Königstädtischen Theaters, ein paar Mauerreste, die sinnlos in der Gegend herumstanden. An einer Wand waren sogar noch die Fliesen und ein Waschbecken zu sehen, das in ungefähr zehn Metern Höhe über dem Erdbogen schwebte. Ein Waschbecken für Riesen mit kleinen Fingern, dachte er.
Er überlegte noch, wie er anfangen sollte, da durchbrach Charly das Schweigen.
»Die Frage ist: warum genau so«, sagte sie, und es war nicht klar, ob sie mit sich selbst sprach oder mit ihm.
»Wie?«
»Warum tötet er so umständlich?« Endlich wandte sie ihren Blick vom Fenster ab und schaute ihn an. »Irgendeinen Grund muss es doch haben, wenn jemand einen Menschen erst paralysiert und dann ertränkt. Oder ihn in dem Glauben lässt, dass er ertrinkt.«
»Hm«, machte Rath, er wollte nicht auch noch hier über die Arbeit reden.
»Vielleicht«, fuhr sie fort, »möchte er damit irgendetwas sagen. Genau wie mit diesen Todesanzeigen. Das ist eine Botschaft.«
»Eine Botschaft für wen? Für die Polizei?« Rath klang ungehaltener, als er klingen wollte.
Charly schien es nicht zu bemerken. »Dann hätten auch wir diese Todesanzeigen bekommen müssen, das hängt irgendwie zusammen. Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist eine Botschaft für die Opfer. Es heißt: Ihr werdet bald sterben.«
Sie tat, als wäre alles in Ordnung, er konnte es nicht mehr ertragen. »Was war da los heute?«, fragte er.
Sie schaute nur einen Moment überrascht. »Was soll denn los sein?«, sagte sie und lächelte ein Lächeln, so künstlich und fremd, dass es ihm vorkam wie angeklebt.
»Du lässt dich nach deinem Abstecher bei Dettmann nicht mehr im Büro blicken, du kommst ewig nicht von den Rauschgiftleuten zurück, weiß der Teufel, was du in der Mittagspause treibst, und dann sitzt du plötzlich wieder an deinem Schreibtisch und machst ein Gesicht, als sei dein Goldfisch gestorben. Das ist doch nicht normal.«
»Willst du mir etwa erzählen, was normal ist im Präsidium? Ausgerechnet du?«
»Mein Gott, Charly, ich möchte nur wissen, was los ist. Ich habe mir Sorgen gemacht.« Er schaute sie an. »Du hättest zurückkommen sollen, als du gemerkt hast, dass der Kollege Dettmann dir nicht weiterhelfen kann. Mit den Rauschgiftfahndern hätte besser ich geredet. Haben die sich lustig gemacht über dich, oder was ist los? Irgendeine dumme Bemerkung? Nimm das nicht persönlich, das ergeht wahrscheinlich jedem Frischling einmal so.«
Sie wollte etwas sagen, hatte den Mund bereits geöffnet, doch dann stoppte sie abrupt, und Rath erschrak, als er ihr Gesicht sah. Da war etwas in ihrem Blick, das ihn zutiefst erschreckte, etwas Totes, Starres. Ihre sonst so warmen braunen Augen wirkten wie eingefroren.
Er kannte Charly. So schaute sie nur, wenn sie kurz vor einem ihrer Wutausbrüche stand. Oder wenn sie sich bemühte, keine Gefühle zu zeigen.
Doch es kam kein Wutausbruch, es kam gar nichts, sie starrte auf den Tisch, als müsse sie sich zusammenreißen wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
»Entschuldige«, sagte er, so vorsichtig und behutsam, wie er konnte. »Ich wollte nicht so hart klingen, aber ich mache mir wirklich Sorgen. Was hast du denn?«
»Nichts«, sagte sie, doch der Klang ihrer Stimme sagte etwas anderes.
»Charly! Ist irgendetwas passiert? Habe ich dich heute blöd behandelt, ohne es zu merken?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mein Chefgetue war doch nur Fassade, das weißt du doch.«
Sie nickte und brachte immer noch kein Wort
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