Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»sollten wir nach wie vor allen Spuren nachgehen, die wir haben. Wenn der Tathergang einem solche Rätsel aufgibt, sollte man sich auf die Motivsuche konzentrieren. Über das Motiv kommt man immer noch am besten an den Täter. Und wenn wir den erst mal haben, kann er uns immer noch erklären, wie er es gemacht hat.«
Lange und Charly nickten, doch Gräf stand da wie versteinert. Der Kriminalsekretär wirkte, als sei er gerade vom Blitz getroffen worden. Endlich bewegte er sich wieder, jedenfalls sein Mund, als er eine Frage stellte.
»Wie, sagtest du, heißt der Tote aus Dortmund?«
»Wawerka.« Rath schaute in die Zeitschrift. »Hans Wawerka.«
»Scheiße!« Gräf war bleich geworden.
»Was hast du denn?«, fragte Rath.
Gräf antwortete nicht, er ging zu seinem Schreibtisch hinüber und wühlte in einem der Kartons, die sie bei Lamkau rausgeschafft hatten. Dann kehrte er mit zwei Briefumschlägen an Raths Tisch zurück.
»Hier«, sagte er und fummelte aus einem Umschlag eine leicht vergilbte Todesanzeige, die jemand sorgfältig aus der Zeitung ausgeschnitten haben musste. »Das stammt aus Lamkaus Privatschreibtisch. War unter den anderen Briefen. Tut mir leid, dass ich so spät geschaltet habe.«
Rath schaute sich das dünne Papier an, das Gräf ihm reichte, und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Eine schlichte Todesanzeige, wahrscheinlich die günstigste Kategorie. Kein Bibelzitat, nur wenige Worte:
Wir trauern um unseren treuen Kollegen
Johann Wawerka
* 14. Dezember 1898 Marggrabowa
† 27. März 1932 Dortmund-Bövinghausen
Die Belegschaft der Zeche Zollern II/IV
17
D as neue Aschinger im Alexanderhaus war heller als das alte im ehemaligen Königstädtischen Theater, dessen Abriss man durch die großen Fenster bestens beobachten konnte. Der Neubau ließ viel mehr Licht hinein, und dennoch hatte man die Gemütlichkeit des alten Lokals ins neue hinübergerettet. Vor allem aber, und das war das Wichtigste, war die Speisekarte noch die alte, ebenso die Preise, und so herrschte im Alexanderhaus der gleiche Rummel wie im alten Domizil, vielleicht sogar ein wenig mehr, weil der Neubau auch Neugierige anlockte. Sie hatten jedenfalls eine Weile gebraucht, bis sie einen Tisch gefunden hatten.
Er war froh, endlich mit ihr allein zu sein, nach all der Hektik des Nachmittags. Die Entdeckung, dass es tatsächlich eine Verbindung gab zwischen Lamkau und dem anderen Mordopfer, die hatte alle elektrisiert. Allerdings hatten sie noch nicht herausfinden können, welcher Art diese Verbindung war. Gräf, der untröstlich darüber war, dass ihm die Todesanzeige nicht früher aufgefallen war, hatte sich zerknirscht gezeigt.
Rath hatte den Kriminalsekretär für den Außendienst eingeteilt, Charlys Liste mit den Rauschgifthändlern abarbeiten, damit er auf andere Gedanken kam. Er hatte Lange noch einmal zu Edith Lamkau nach Tempelhof geschickt und die Kriminaltechniker der Inspektion I in sein Büro kommen lassen. Lamkaus Schublade hatte einen zweiten, ähnlichen Brief enthalten mit einer weiteren Todesanzeige. Da wurde um einen gewissen August Simoneit getrauert, der im Alter von siebenundvierzig Jahren am 11. Mai in Wittenberge gestorben war – allerdings keines gewaltsamen Todes, wie es aussah. Rath hatte Charly darangesetzt, mehr über die Todesumstände dieses dritten Mannes herauszufinden, was sich allerdings als schwieriger erwies, als gedacht; jedenfalls hatte es keine Todesfallermittlungen gegeben, Simoneits Name war der örtlichen Kriminalpolizei nicht einmal bekannt und auch in keiner Akte vermerkt. Ein mageres Ergebnis dafür, dass sie sich schwer ins Zeug gelegt hatte, fast so, als habe sie beweisen wollen, dass sie doch eine gute Kriminalbeamtin abgäbe, obwohl Rath nie an ihren Fähigkeiten gezweifelt hatte und auch die Kollegen nicht. Die Einzige, die zu zweifeln schien, war Charly selbst, und Rath fragte sich immer noch, ob das allein an ihrer vergeblichen Tubocurarinrecherche liegen mochte.
In der Burg hatte er das nicht mit ihr klären können, Erika Voss hatte jedes Vieraugengespräch zu verhindern gewusst.
Rath hoffte, dass es vielleicht ein Trost für Charly war, dass er selbst auch nicht weitergekommen war bei seinen Anrufen in Dortmund. Von der Zeche Zollern jedenfalls war die Todesanzeige nicht an Lamkau geschickt worden, weder von der Geschäftsleitung noch vom Betriebsrat. Und den ermittelnden Kommissar im Fall Wawerka hatte Rath auch nicht mehr an die Strippe bekommen,
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