Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
angefühlt wie eine Beichte, als habe sie Gereon ihre Sünden gestanden. Und gleichzeitig war die Wut in ihr wieder aufgestiegen, die ohnmächtige Wut. Einen Moment hatte er gar nichts gesagt, sie nur angeschaut, entsetzt.
»Verdammt«, hatte er dann gesagt, »warum hast du dich nicht gewehrt? Warum hast du diesem Arschloch nicht die Meinung gesagt?«
»Gereon, du hörst dich an, als würdest du mir die Schuld dafür geben. Warst du noch nie sprachlos, wenn jemand dir gegenüber so unverschämt war, wie du es niemals für möglich gehalten hättest?«
»Entschuldige. Natürlich kenne ich das.«
Sie hatte die Wut in seinen Augen gesehen und ihm das Versprechen abgenommen, niemandem in der Burg davon zu erzählen, weder Gennat noch sonst irgendwem.
Der Abend war dann noch ziemlich schön geworden, und sie hatte sogar wieder lachen können, richtig lachen mit ihren getrockneten Tränen. Sie hatten es sich gemütlich gemacht in der Carmerstraße, in dieser riesigen Wohnung, von der sie sich nicht sicher war, ob sie nicht doch eine Nummer zu groß für Gereons Finanzen war. Allein von seinem Gehalt konnte er sich die jedenfalls nicht leisten. Aber die Raths hatten Geld, das hatte sie bei ihrem Kölnbesuch vergangenes Jahr gesehen, und vielleicht hatte Onkel Joseph seinem Neffen ja ein ansehnliches Sümmchen vererbt. Sie hatten noch ein wenig Wein getrunken und waren schon bald im Schlafzimmer verschwunden, und Gereon war so zärtlich und so behutsam mit ihr umgegangen, dass sie beinahe wieder einen Lachanfall bekommen hätte.
»Mensch, ich bin doch nicht aus Porzellan«, hatte sie schließlich gesagt.
»Das wäre ja auch noch schöner«, hatte er geantwortet und dann doch noch richtig zugepackt.
Als sie in seinen Armen eingeschlafen war, hatte sie nicht mehr an Dettmann gedacht, das immerhin hatte Gereon geschafft.
Charly betrachtete den Zwiebelberg, der einfach nicht kleiner werden wollte. Als habe ein böser Zauberer seine Finger im Spiel. Der schien auch die Zeiger der großen Uhr über dem Glasfenster des Büros verhext zu haben und daran zu hindern, sich in einem normalen Tempo zu drehen.
Wenigstens das mit den Tränen schien sich so langsam zu legen. Vielleicht waren einfach keine mehr da, die hätten fließen können. Sie sah das Gesicht von Unger hinter der Scheibe, der ihr einen missbilligenden Blick zuzuwerfen schien, sobald sie auch nur einmal kurz verschnaufte. Der Zwiebelberg würde sie wahrscheinlich noch den ganzen Tag beschäftigen, wie sollte sie sich da umgucken hier im Haus Vaterland ? Und das auch noch unauffällig? Wenn die sie weiterhin nur Zwiebeln schneiden lassen würden, bekäme sie rein gar nichts von dem mit, was sich hier abspielte. Nichts von den offensichtlichen Dingen und schon gar nichts von den heimlichen. Das Haus Vaterland war ein Riesenkomplex mit Hunderten von Mitarbeitern. Allein die Küche war größer als die meisten Berliner Restaurants.
Es half nichts, sie griff zur nächsten Zwiebel und setzte das Messer an. Wenigstens bekam sie langsam Übung darin. Den ganzen Rest aber würde sie wahrscheinlich nie lernen, sie taugte einfach nicht zur perfekten Hausfrau, allen Bemühungen ihrer Mutter zum Trotz. Sie wollte schließlich auch gar keine sein.
19
E s war kaum auszuhalten. Dass Böhms Vortrag so langweilig war wie sonst nur die technischen Berichte von Werner Kronberg, dem ED – Chef, das hätte er zur Not noch ertragen, nicht aber, dass Harald Dettmann nur eine Reihe vor ihm saß, vielleicht drei Stühle links von ihm, und so zufrieden aus seinem dämlichen Gesicht grinste, dass Rath am liebsten zugeschlagen hätte.
Die halbe Zeit schwänzte Dettmann die Morgenrunde, nie um eine fadenscheinige Ausrede verlegen, aber ausgerechnet heute musste er hier sitzen und sein Grinsen zur Schau tragen.
Rath war ziemlich übermüdet und ein paar Minuten zu spät im kleinen Konferenzsaal erschienen, und das nicht nur, weil Charly bei ihm in der Carmerstraße übernachtet hatte. Eigentlich waren sie sogar vergleichsweise früh eingeschlafen. War sie vergleichsweise früh eingeschlafen. Er hingegen hatte den Rest der Nacht wach gelegen und sie beobachtet oder einfach an die Decke gestarrt. Die Geschichte, die sie ihm erzählt hatte, war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Er hatte es zunächst nicht verstanden, aber Charly hatte recht, sie konnte diese Angelegenheit nicht bei Gennat oder bei ihrer Vorgesetzten Wieking zur Sprache bringen, damit würde der Fall offiziell, und wenn
Weitere Kostenlose Bücher