Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
heraus.
»Nun erzähl doch, was mit dir los ist, du machst mir ja Angst.«
Ihr Kopfschütteln wirkte, als wolle sie den starren Blick aus ihrem Gesicht schütteln.
Er ging hinüber zu ihr, nahm ihre Hand. Es wirkte, als wolle er sie zum Tanz auffordern, nur dass hier weit und breit keine Tanzfläche war und nicht einmal Musik spielte. Dennoch stand sie auf, und er nahm sie in den Arm. »Was ist denn los, mein Mädchen?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Und dann spürte er, wie es sie schüttelte, wie ein lautloses Schluchzen ihren Körper durchschüttelte. »Ist ja gut«, sagte er und streichelte ihr über den Kopf, und als sie nicht aufhörte zu schluchzen, immer wieder: »Ist ja gut, ist ja gut«, wie eine Beschwörungsformel.
Schließlich hörte das Zittern auf. Sie machte sich los und schaute ihn kurz aus tuscheverschmierten Augen an, bevor sie den Blick nach unten senkte und in der Damentoilette verschwand.
Erst als sie an den Tisch zurückkam, die Tränen getrocknet, das Gesicht neu geschminkt, war sie in der Lage, ihm zu erzählen, was passiert war.
18
H ackhackhackhackhack.
Man konnte den Bewegungen kaum folgen, so schnell waren sie. Und schon war die nächste Zwiebel atomisiert, in winzig kleine Stücke zerfallen.
»Hier, siehste? So musste det Messer ansetzen, denn fluppt det schon. Und immer runter, zackzack. Und dann so rum drehen. Und uffpassen, dette dir nich die Finger absäbelst.«
Höchstens achtzehn, der Knabe, aber Zwiebeln schneiden konnte er mit einer Geschwindigkeit und Präzision, dass er im Zirkus hätte auftreten können. Selten zuvor hatte Charly sich so ungeschickt gefühlt wie in diesem Moment. Sie versuchte, Messer und Zwiebel so ähnlich zu halten, wie der rothaarige Junge es vormachte, den Chefkoch Unger ihr zur Seite gestellt hatte, und merkte gleich, dass sie Fortschritte machte. Wenn sie auch noch weit entfernt war von der affenartigen Geschwindigkeit, die er an den Tag gelegt hatte.
»Na siehste! Det wird schon! Wennde det allet hier durchhast, dann jeht det wie jeschmiert! Wirste sehen!«
Det allet war ungefähr ein Zentner, ein riesiger Berg jedenfalls. Noch nie in ihrem Leben hatte Charly derart viele Zwiebeln auf einen Haufen gesehen.
Der Junge zwinkerte ihr aufmunternd zu und ließ sie mit ihrem Zwiebelberg alleine. Charly machte sich tapfer lächelnd an die Arbeit. Die Tränen waren ihr schon bei der ersten Zwiebel vorhin gekommen, und den Tipp des Jungen – »einfach die Oogen schließen« – mochte sie nicht befolgen, aus Angst, mit ein paar Fingern weniger in den Feierabend zu gehen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass die Augen nur noch stärker brannten, wenn sie die Lider schloss. So ließ sie die Tränen einfach fließen und versuchte, durch den Schleier zu erkennen, was sie da machte.
Das Einstellungsgespräch bei Unger, dem Chefkoch, war noch die angenehmste Sache des heutigen Tages gewesen. Der Mann hatte zwar unverhohlen auf ihre Beine geglotzt, als er ihr einen kleinen Probetext diktierte, hatte sich aber mit ihren Fähigkeiten zufrieden gezeigt. Jedenfalls hatte er sie eingestellt, dummerweise aber vorerst nicht weiter auf ihre Stenografiekenntnisse zurückgreifen wollen.
»Sie können dann gleich anfangen«, hatte er gesagt und irritiert geschaut, als sie wieder zum Stenoblock griff. »Nein, nein, erst mal in der Küche. Ich besorge Ihnen jemanden, der Sie anlernt.«
Charly hatte den Block weggelegt und darum gebeten, telefonieren zu dürfen. Und auf sein unfreundliches Stirnrunzeln hin mit freundlichem Lächeln hinzugesetzt: »Meine Mutter. Sie macht sich sonst Sorgen, wenn ich zum Mittagessen nicht zu Hause bin.«
»Gut«, hatte Unger geknurrt, »kostet aber zwee Groschen. Zieh ick vom Lohn ab«, und ihr sein Telefon über den Schreibtisch geschoben. Dann war er hinausgegangen, um den Küchenjungen zu holen, der sie anlernen sollte, und sie hatte sich gefreut, ungestört ein paar Worte mit Gereon wechseln zu können. Und dann doch nur Erika Voss erreicht. Der Herr Kommissar war nicht im Büro.
Eine weitere Gelegenheit zum Telefonieren hatte sie nicht mehr bekommen. Kurz darauf war Unger zurückgekehrt, im Schlepptau den Rothaarigen, und mit ihrer Freiheit war es seither vorbei.
Sie musste an gestern Abend denken. Es hatte ihr geholfen, die Sache zu erzählen, endlich jemandem davon zu erzählen. Und dennoch war sie sich, während sie es erzählte, wieder klein und schmutzig vorgekommen. Obwohl sie sich nichts vorzuwerfen hatte, hatte es sich
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