Die Akte Veden
Mikrofon ausrichtete. Erneut stopfte er sich die Kopfhörer in die Ohren.
»Hallo«, hörte er Chester sagen. Irgendwas quietschte. Der Ton klang hohl. Ein grausames Rascheln drang in seinen Gehörgang.
»Komm rein«, sagte Veden.
Sogar über das Richtmikrofon war unverkennbar, dass der Direktor müde klang. Vielleicht hatte er tatsächlich geschlafen. Erneutes Rauschen. Die Schritte, die beide machten, klangen polternd. Ein Vogelgezwitscher fuhr dazwischen, und Tim kniff die Augen zu. Viel zu laut! Aber er war zu neugierig, um die Kopfhörer herauszunehmen.
»Sie sind nicht zum Unterricht gekommen«, hörte er Chester sagen. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob es Ihnen gut geht, immerhin waren Sie in all den Jahren noch kein einziges Mal krank.«
Rauschen. Und wieder der verdammte Vogel, der wie verrückt krächzte.
»Trinken Sie etwa?« Das war wieder Chesters Stimme.
»Ich brauche was für die Nerven«, hörte er Veden antworten. »Willst du auch was? Alt genug bist du ja.«
»Nein, danke. Sie sehen nicht gut aus, Sir. Was ist denn passiert?«
»Ich bin in Schwierigkeiten.«
War Veden etwa wirklich besoffen? War das keine Müdigkeit sondern nur eine betrunkene Stimme? Durchaus möglich.
»Welche Schwierigkeiten?«, fragte Chester.
»Das musst du nicht wissen, es belastet dich nur. Mir wäre es recht, du würdest wieder gehen. Ist lieb von dir, dass du dir Sorgen machst, aber in meiner Nähe bist du momentan nicht sicher.«
Schweigen. In Tims Ohren zischelte es, der Vogel hielt sich jetzt ruhig.
»Sir, ich verstehe nicht ganz. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Was ist denn passiert?«
»Geh, Chester.«
»Hat es etwas mit diesen beiden Schulinspektoren zu tun, Sir? Wissen Sie, ich glaube nicht, dass die wirklich von der Schulbehörde kommen. Sind Sie wegen denen in Schwierigkeiten?«
Elender Verräter, dachte Tim.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Veden.
»Na ja, dieser von Schallern interessiert sich für die Imagination. Er nimmt quasi Unterricht bei mir. Außerdem schnüffeln sie wegen des Brandes in den Archiven rum, und Sie wissen ja, was passiert, wenn die rausfinden, was wirklich geschehen ist. Sie haben sich strafbar gemacht, Sir, weil Sie mich decken.«
Der Vogel zeterte wieder los, dieses Mal noch schriller. Tim kniff die Augen zu und versuchte, sich auf die beiden Stimmen zu konzentrieren.
»Mein lieber, lieber Chester«, sagte Veden. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Wenn es nur das wäre!« Er hörte ihn lachen. »Das hat von Schallern längst herausgefunden. Bleib bei der Version. Ich glaube nicht, dass er dich deshalb belangen wird. Du hast eine steile Karriere vor dir, Chester. Nutze deine Chance.«
»Er hat es herausgefunden? Wirklich?«
»Ja. Wie gesagt, du brauchst keine Angst zu haben. Aber jetzt geh bitte, lass mich allein. Und versprich mir, dass du was aus dir machen wirst.«
»Sir, Sie reden ja, als würden wir uns nicht mehr sehen.«
Wieder lachte Veden. »Wir werden uns auch nicht mehr sehen.« Jetzt wurde Vedens Stimme undeutlich, klang genuschelt: »Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis von Schallern genug Beweise hat.«
»Beweise? Welche Beweise? Wovon reden Sie?«
Als wüsstest du das nicht, dachte Tim. Wir haben dich doch längst eingeweiht, du Idiot. Mach dich vom Acker, bevor ich eingreifen muss.
»Chester, geh jetzt.« Veden schien das gleiche zu denken wie Tim. »Deine Freistunde ist gleich vorbei. Hier hast du Geld. Nimm dir ein Taxi, damit du pünktlich zum Unterricht kommst. Nein, keine Wiederrede! Ich rufe dir eins, geh schon mal raus. Mach’s gut, und bitte pass auf dich auf.«
Ein Klacken ertönte, Tim hielt es für das Zufallen einer Tür. Keine Minute darauf begann das Tor aufzuschwingen und Chester kam in Sichtweite. Tim legte das Richtmikrofon weg und duckte sich. Es dauerte fast zehn Minuten, bis das Taxi auftauchte und der Schülersprecher davonfuhr.
Tim beendete die Aufnahme und rief Loki an.
»Chester war gerade hier«, sagte er zu seinem Cousin. »Er hat vorhin schon mal versucht, Veden anzurufen, aber der Direktor scheint betrunken zu sein. Er hat nicht abgehoben.«
»Sehr interessant«, antwortete Loki. »Worüber haben sie gesprochen?«
»Chester hat sich Sorgen gemacht und wollte wissen, warum der Direktor den Unterricht abgesagt hat. Ich nehme an, er unterrichtet Chesters Klasse im Kampfsport?«
»So ist es. Was hat Veden gesagt?«
»Dass Chester gehen soll. Dass wir das mit dem Brand herausgefunden haben, er aber nicht glaubt,
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